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3 Grenzen der Koranexegese DE

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Riječ “islam” je naziv za mnoštvo različitih značenja, koja korištenjem otvorenog “leksikona” pojmova , izjava i praksi,

Das Wort “Islam” steht als der Name für sehr viele verschiedene Bedeutungen, die durch den Gebrauch eines offenen “Lexikons” von Begriffen, Aussagen und Praktiken
 

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Urheberrechtlich geschütztes Material
Grenzen der Koranexegese
Interpretationssemiotische Überlegungen
Mark Chalîl Bodenstein*
Abstract
Angesichts der zunehmenden Vielfalt an Interpretationen und
Übersetzungen des Korans, bei denen einen zum Teil das Gefühl
beschleicht, dass etwas nicht ganz richtig ist, zu viel im Koran
gefunden wird, zum Teil auch offensichtliche Anachronismen
auftauchen – in ungefähr also das, was Ömer Özsoy als “Unbe￾
hagen der Koranexegese” betitelt hat –, soll hier gefragt wer￾
den, inwieweit Interpretationen geprüft und gegebenenfalls fal￾
sifiziert werden können. Da sich der Semiotiker Umberto Eco
schon ab den 1980er Jahren in mehreren Schriften gerade mit
der Frage der “Grenzen der Interpretation” beschäftigt hat, wird
versuchsweise dessen sogenannte Interpretationssemiotik, die auf
der Semiotik von C.  .  eirce‘ aufbaut, als methodologischer
Rahmen eingeführt. Danach soll geprüft werden, ob die innere
Kohärenz des Textes unter Berücksichtigung der semiosischen
Prozesse der Zeicheninterpretation als Kriterium dienen kann,
nicht die beste Interpretation, sondern schlechten Textgebrauch
zu identifizieren.
“But where’s the precognition?” Joe demanded. “This is
remarkably up to date—right up to this minute, give or
take an hour—but that’s all.”
“You will find it,” Mali said, “when you have looked a
long time. It is buried. Among the different texts, which
are all translations of one primary text, one line like a
* Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam, Universität Frankfurt.
78 Mark Chalîl Bodenstein
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thread. The thread of the past entering the present, then
entering the future. Somewhere in that book, Mr. Fern￾
wright, the future of Heldscalla is written.”
(Philip K. Dick: Galactic Pot-Healer. 1969)
allaḏīna ātaynāhumu l-kitāba yatlūnahū ḥaqqa tilāwatihī ulāʾika yuʾminūna
bihī wa-man yakfur bihī fa-ulāʾika humu l-ḫāsirūna (Koran 2:121)
“Diejenigen, denen wir die Schrift gegeben haben, und die sie
richtig lesen, glauben daran. Diejenigen aber, die nicht daran glau￾
ben, haben letzten Endes den Schaden.”1
Ungeachtet der Schwierigkeiten, die das Verständnis dieses Verses
und dessen Übersetzung aufwirft, scheint er anklingen zu lassen, dass
es ein richtiges Lesen gibt und damit Glauben verbunden ist. Gleich￾
zeitig scheint der Text zu implizieren, dass ein Fehllesen möglich ist
und dies mit Nichtglauben verbunden ist, auch wenn offen bleibt,
in welchem kausalen Zusammenhang beides steht. Das Spannungs￾
verhältnis von Glauben und Nichtglauben sowie von richtigem und
falschem Verstehen(-Wollen?) der Offenbarungsschrift lässt sich wohl
nicht auf die in den angrenzenden Versen verhandelten Streitigkeiten
zwischen Juden und Christen begrenzen, wie schon aṭ-Ṭabarīs Kom￾
mentar zu entnehmen ist, der Belege sowohl dafür anführt, dass mit
denjenigen, “denen wir die Schrift gegeben haben”, die Propheten￾
gefährten gemeint seien respektive diejenigen, “die an den Prophe￾
ten Gottes glauben” (humu l-muʾminūna bi-Rasūli Llāhi), als auch die
Gelehrten der banī Isrāʾīl bzw. die “ahl al-kitābayn, at-tawrāt wa-l-inǧīl”
(vgl. Ṭabarī 2001, II: S. 486). Wenn wir zudem diesen Vers nicht nur
deskriptiv verstehen, als Zustandsbeschreibung zur Offenbarungszeit,
sondern auch normativ und pragmatisch, als Aufforderung, die Schrift
in rechter Weise zu lesen, dann erstreckt sich die Frage des Falsch￾
lesens bis ins heute und Ömer Özsoys Unbehagen an der (besonders
1 Koranübersetzungen folgen in der Regel der Übertragung von Rudi Paret
(1993) und wurden nötigenfalls überarbeitet.
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modernen) Koranexegese2 zeigt, dass auch die islamische Welt3 sich
scheinbar – wenn auch möglicherweise unwissentlich und unwillent￾
lich – dekonstruktivistischer Ansätze nicht entziehen konnte und sich
der Text in den Interpretationen auflöst, bei denen der Interpret aus￾
schlaggebend ist und ungewiss bleibt, wonach dann über die Richtig￾
keit einer Interpretation entschieden werden kann.
Gerade dieser Problematik hat sich Umberto Eco in “Die Gren￾
zen der Interpretation” (1995) für narrative Texte gewidmet und ver￾
sucht, eine Textpragmatik theoretisch zu fundieren, die Interpreta￾
tion von Gebrauch abgrenzt, ohne Deutungsvielfalt auszuschließen
und die eine richtige Interpretation vorauszusetzen. Auch wenn der
Koran aus einer Vielzahl von Gründen andere Problemstellen aufweist
– genannt seien nur der an wenigen Stellen narrative Charakter des
Textes und seine nachträgliche Komposition – so soll doch versucht
werden, aus den theoretischen Ausführungen Umberto Ecos zu den
“Grenzen der Interpretation” für den Koran einen Ansatz zu entwi￾
ckeln, mit dem solche Grenzen festgestellt werden können, an denen
sich die Lektüre orientieren könnte. Dazu soll zuerst die Interpreta￾
tionssemiotik Ecos und die sich daraus ergebenden Fragen bei der
Koranlektüre betrachtet werden, wie auch, welche Ausschlusskrite￾
rien zur Identifikation “falscher” Interpretation in Anschlag gebracht
werden könnten.
Im folgenden geht es also darum, der “Falsifizierbarkeit von Fehlin￾
terpretationen” nachzugehen, die Umberto Eco wie folgt umschreibt:
“Wir können daher eine Art von Popper-Prinzip akzeptieren,
wonach, wenn es schon keine Regeln gibt, die uns versichern,
welche Interpretationen die ‘besten’ sind, es doch zumindest eine
Regel gibt festzustellen, welche ‘schlecht’ sind. Wie ich oben sagte,
besagt diese Regel, daß die interne Kohärenz des Textes als Para￾
2 Siehe seinen Beitrag in der vorherigen Ausgabe, S. 57ff.
3 “Islamische Welt” ist nicht zu verstehen als geographische Einheit, sondern
eher als kulturelle Entität.
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meter für seine Interpretation genommen werden muß.” (Eco
2005: 75)
Dazu wird versucht, dieses “Wie ich oben sagte”, die Elemente der
Interpretationssemiotik, die Umberto Eco ab den 1980er Jahren ent￾
wickelt hat (besonders in Eco 1990, 1995), zumindest in Ausschnit￾
ten darzustellen und für Fragen der Koraninterpretation fruchtbar zu
machen, und somit Regeln und Kriterien zu finden, die es erlauben,
“schlechte” Interpretationen zu falsifizieren.
Offener Text und geschlossener Text
Stellen wir uns den Koran nun als einen offenen Text vor, der eine
Vielfalt von Interpretationen anregt und erlaubt. Nach Ecos Idee des
Offenen Kunstwerks (vgl. Eco 1973) generiert der aktive Prozess der
Interpretation erst den Sinn, der sich aus der Erkenntnisbeziehung
zwischen den jeweiligen Erfahrungshorizonten und sprachlichen Rei￾
zen ergibt, weshalb “jede Rezeption aller Werke dieses Merkmal der
Ambiguität, Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit aufweisen muß.”
(Schalk 2000: 34–35) Dies trifft aber auf jeden Zeichengebrauch zu,
da der Prozess der Semiose immer Interpretation beinhaltet (dazu
später), die Eco aber in seinen Arbeiten zur Textinterpretation unter￾
scheidet in “Interpretation” und “Gebrauch”. Dies ist verbunden mit
der Unterscheidung zwischen “offenen” und “geschlossenen” Texten,
die sich aus der Art und Weise und dem Maß bemisst, wie ein Text
den Leser zur interpretativen Mitarbeit einlädt. Demnach ist “[an]
einem geschlossenen Text (…) überhaupt nichts offen; seine Öff￾
nung ist allein Wirkung einer von außen kommenden Initiative, eine
Art, den Text zu gebrauchen und nicht sanft und selig sich von ihm
gebrauchen zu lassen.” (Eco 1990: 71) Daher stehen geschlossene
Texte “prinzipiell jeder Interpretation offen, da sie ihren Modell-Leser
nur höchst unbestimmt voraussetzen. Solche Texte treffen nur vage
Voraussagen über ihre impliziten Leser und deren Funktion, um mög-
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lichst viele reale Leser anzusprechen, und setzen gleichzeitig sehr ein￾
deutige Textmerkmale im Hinblick auf mögliche Wirkungen.” (Schalk
2000: 156) Diese werden aber verfehlt, wenn sich reale Leser – aus
welchen Gründen auch immer – “auf andere Konventionen beziehen,
oder sich an anderen Präsuppositionen orientieren”. Dann können
geschlossene Texte “auf verschiedene Art gelesen werden, und jede
Art ist unabhängig von der anderen.” (Eco 1989: 199) Der Text selbst
fungiert in diesem Falle nur als Anstoß für einen davon losgelösten
Interpretationsprozess respektive als Legitimation oder Bezugspunkt
für jedwede ideologische Position, von der aus nicht wieder auf den
Ausgangstext geschlossen werden kann, und die mit anderen Inter￾
pretationen wenig bis gar nichts gemein hat.
Dagegen soll für offene Texte gelten, “daß – wieviele (!) Inter￾
pretationen auch möglich seien – die eine in der anderen anklingen
und sich darin ergänzen möge, daß sich diese Interpretationen nicht
gegenseitig ausschließen, sondern einander bedingen.” (Eco 1990:
71) Das Funktionieren eines solchen Textes ist in stärkerem Maße von
der Mitarbeit des Lesers abhängig, weshalb der Autor seinen Leser
mittels Textstrategien im Text vorsieht, und entscheidet, “bis zu wel￾
chem Punkt er die Mitarbeit des Lesers kontrollieren muß, wo diese
ausgelöst, wo sie gelenkt wird und wo sie sich in ein freies Abenteuer
der Interpretation verwandeln muß.” (Eco 1990: 71)
Der Modell-Leser
Gehen wir hier (vorerst) davon aus, dass der Koran ein (offener) Text
ist, der verstanden werden will, weshalb er einen Leser vorsieht, der
den Text versteht, aktualisiert und interpretiert, und ihn so durch
seine Mitarbeit vervollständigt, und kein (geschlossener) Text, der
auf jede erdenkliche Art interpretiert werden kann. Dieses im oder
vom Text vorgesehene Modell eines möglichen Lesers, “der vermeint￾
lich in der Lage ist, interpretativ mit den Ausdrücken so umzugehen,
wie der Autor es auf generative Weise tat” (Eco 1989: 197), sollte
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also das Ensemble von Codes mit dem Autor teilen. Idealerweise
“(…) wählt jeder Texttypus ausdrücklich ein sehr allgemeines Modell
eines möglichen Lesers durch die Wahl 1. eines spezifischen linguis￾
tischen Codes, 2. durch einen bestimmten literarischen Stil, und 3.
durch spezialisierte Referenzen aus (…).” (Eco 1989: 197) So lässt
sich etwa bei Kinderbüchern aus der Art der Ansprache und oftmals
auch aus dem Alter der Hauptfiguren auf den Modell-Leser schließen,
bei anderen Texten wiederum aus den fachlichen oder literarischen
Bezügen die vorausgesetzten spezifischen enzyklopädischen Kompe￾
tenzen (vgl. Eco 1989: 197). “Der Leser ist durch die lexikalische und
syntaktische Organisation genau definiert: Der Text ist nicht anderes
als die semantisch-pragmatische Produktion seines eigenen Modell￾
Lesers.” (Eco 1989: 201)
Wie mag nun ein solcher vom Koran vorgesehener Modell-Leser
zu fassen sein und welche Probleme sind damit verbunden? Es scheint
so, als würde der Koran mit Anreden wie yā ʾayyuhā llaḏīna ʾāmanū
durchaus den Modell-Leser benennen, der ihn in richtiger Weise zu
verstehen vermag, weil er erstens den richtigen linguistischen Code
beherrscht, zweitens stilsicher die richtige Interpretationsebene
wählt und drittens die vorfindlichen Referenzen kennt und einzube￾
ziehen weiß. Als empirische Leser lassen sich gewiss die Ersthörer
des Korans festhalten, die hoffentlich auch als Modell-Leser im Text
vorgesehen sind. Aber deren enzyklopädische Kompetenzen als empi￾
rische Leser ließen sich bestenfalls aus außerkoranischen Quellen
wie Geschichtswerken und anderen literarischen Texten erschließen
bzw. aus deren Anwendung in frühesten tafsīr-Werken, was aber noch
nichts über den im Koran vorgesehenen Modell-Leser aussagt.
Zudem ist hier nicht die Unterscheidung zwischen “semantischer
Interpretation und kritischer Interpretation (oder wenn man so will,
zwischen semiosischer Interpretation und semiotischer Interpretation)”
(Eco 1995: 43) berücksichtigt, also die Idee, dass einerseits ein “nai￾
ver” Modell-Leser den Text so mit Sinn erfüllt, wie er vorliegt, und
andererseits ein “kritischer” Modell-Leser untersucht, auf welche
Weise “der Text diese (oder andere) semantischen Interpretationen
Grenzen der Koranexegese 83
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hervorbringen kann” (Eco 1995: 43). Insofern dürfte die Untersu￾
chung von tafsīr-Literatur auf der Suche nach dem Wesen des Modell￾
Lesers zuvörderst den “kritischen”, semiotischen Leser hervorbrin￾
gen und weniger den “naiven”, semiosischen. In Übersetzungen des
Korans hingegen finden wir gewöhnlich Ergebnisse von semiosischen
Interpretationsprozessen. Insofern wäre es vorstellbar, den Modell￾
Leser aus den Interpretationsproblemen des Korantexts bzw. aus den
problematischen Stellen abzuleiten, von denen wir annehmen sollten,
dass sie für ihn funktionieren.
Wollen wir nun nachvollziehen, wie dieses Vorsehen eines Lesers in
einem offenen Text vonstatten geht, ist der Prozess der (unendlichen)
Semiose selbst ins Auge zu fassen, in den ein Autor in Maßen steu￾
ernd eingreifen kann.
Zeichen und Interpretation
Allgemein ließe sich wohl sagen, dass ein Zeichen erst durch seine
Wahrnehmung als Zeichen zu einem solchen wird. Es kann nicht
getrennt von Signifikations- und Kommunikationsprozessen betrach￾
tet werden:
“[D]as Zeichen ist der Ursprung des semiosischen Prozesses, und
es besteht keine Opposition zwischen dem ‘Nomadentum’ der
Semiose (und der interpretatorischen Aktivität) und der vorgebli￾
chen Starre und Unbeweglichkeit des Zeichens. Der Zeichenbegriff
muß von der trivialen Identifikation mit der Idee der codierten
Äquivalenz und Identität befreit werden; der semiosische Interpre￾
tationsprozeß befindet sich im unmittelbaren Kern des Zeichenbe￾
griffs.” (Eco 1985: 11–12)
Die Zeichentheorie Umberto Ecos, die er in zahlreichen Schriften seit
den 1960er Jahren entwickelt und dabei seine Positionen mit den
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letzten Jahren immer wieder modifiziert hat, sieht damit den semi￾
osischen Interpretationsprozeß im Zentrum des Zeichenbegriffs. Als
Ausgangspunkt kann zuerst eine allgemeine Zeichendefinition von
Charles Sanders Peirce gelten:
“Ein Zeichen steht für etwas im Hinblick auf die Idee, die es her￾
vorbringt und modifiziert … Das, wofür es steht, wird sein Objekt
genannt, das, was es überträgt, sein Signifikat, und die Idee, der es
entstammt, sein Interpretant.” (Peirce 1994, I: 339; hier nach Eco
1990: 32)
Diese wird im weiteren noch spezifiziert:
“Ein Zeichen oder Repräsentamen ist etwas, das für jemanden
anstelle von etwas in irgendeiner Beziehung oder Kapazität steht.
Es richtet sich an jemanden, das heißt, es bringt im Geiste einer
Person ein gleichartiges Zeichen hervor, oder vielleicht auch ein
entwickelteres Zeichen. Das Zeichen, welches es hervorbringt,
nennen wir den Interpretant des ersten Zeichens. Dieses Zeichen
steht für etwas, das eigentliche Objekt. Es steht für jenes Objekt
nicht in jeglicher Hinsicht, sondern in Beziehung zu einer Art Idee,
die ich bislang den Ground der Repräsentation genannt habe."
(Peirce 1994, II: 228; hier nach Eco 1990: 32)
Der Ground, der das Zeichen in gewisser Weise bestimmt, kann
als das gelten, “was von einem vorgegebenen Objekt unter einem
bestimmten Gesichtspunkt wahrgenommen und übermittelt werden
kann” (Eco 1990: 35), verbindet also Signifikat und Interpretant in
Bezug auf die relevanten Eigenschaften des Objekts. Der Interpretant
unterscheidet sich dann aber vom Signifikat, das “virtuell alle (…)
möglichen Entfaltungen (oder Expansionen)” eines Begriffs im Text
umfasst (Eco 1990: 39), als er die (konkreten) Übersetzungsprozesse
bezeichnet, die in quasi endloser Semiose das Objekt immer bes￾
ser bezeichnen und erklären sowie schlussendlich zu (Handlungs-)
Grenzen der Koranexegese 85
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Gewohnheiten führen (die Peirce dann als finalen Interpretanten
bezeichnet).
Diese Erklärung kann verstanden werden als Erweiterung der
klassischen Definition von de Saussure, in dessen Anschluss das Zei￾
chen gesehen wurde als Verhältnis oder Korrelation von Signifikant
und Signifikat, oder Ausdrucksebene und Inhaltsebene bei Hjelms￾
lev (vgl. Eco 1985: 30). Mit Peirce kommt es zu einer Erweiterung
des Zeichenbegriffs um den Interpretanten, die Idee, die im Geist des
Interpreten entsteht, zu der das Bezeichnete in irgendeinem Verhält￾
nis steht. Aus einem dyadischen Zeichen, das für sich selbst ist, wird
hier ein triadisches, das Objekt, Signifikat, und Interpretant in ein
notwendiges Verhältnis setzt und die (feste) Korrelation von Bezeich￾
nendem und Bezeichnetem gewissermaßen auflöst zugunsten eines
Interpretationsprozesses. “Das Zeichen ist eine Interpretationsanlei￾
tung, ein Mechanismus, der von einem Anfangsstimulus ausgeht und
zu all seinen schlußfolgernden Konsequenzen führt.” (Eco 1985: 47)
Das außersprachliche Objekt, das, wovon die Rede ist, das
Gemeinte, steht in keinem direkten Verhältnis zum sinnlich wahr￾
nehmbaren Ausdruck: das Zeichen selbst steht für nichts und hat
keine Bedeutung. Diese bekommt es durch transsubjektive Überein￾
kunft einer Gruppe von Interpreten (der Interpretationsgemeinschaft),
die ein Zeichen mit einem oder mehreren Objekten korrelieren und
somit codieren, so dass wir schließlich von kulturell bedingten, ver￾
mittelten und erlernten Konventionen als Interpretanten sprechen
können, die in ihrer Summe gewissermaßen eine Enzyklopädie dar￾
stellen (vgl. Eco 1985: 107–132), aus der Sprecher und Hörer schöp￾
fen, ohne sicherstellen zu können, dass beide auf dasselbe Bezug neh￾
men, wobei der semiosische Prozess sowohl Textproduktion als auch
Textinterpretation umfasst.
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Zeichen und Abduktion
Der Prozess der Semiose ist nun eng verknüpft mit dem von C. S. Peirce
gefundenen Schlussmodus der Abduktion, als dem Weg von überra￾
schenden und erklärungsbedürftigen Erscheinungen zu erklären￾
den Ideen und Theorien sowie hypothetischen Regeln, als deren
Fälle die Erscheinungen deduktiv ableitbar sind und somit logisch
erscheinen. Ausgehend von einem Resultat wird hypothetisch eine
Regel aufgestellt, als dessen Fall das vorliegende Resultat nicht mehr
überraschend ist. “Die Abduktion ist daher das versuchsweise und
risikoreiche Aufspüren eines Systems von Signifikationsregeln, die es
dem Zeichen erlauben, seine Bedeutung zu erlangen.” (Eco 1985: 68)
Sie steht gewissermaßen in Opposition zur Deduktion, insofern als
diese “von einer Regel ausgeht, einen Fall dieser Regel betrachtet und
automatisch ein notwendiges Resultat erschließt.” (Eco 1995: 295)
In unserem Falle der Textinterpretation bedeutet dies, dass zu den
erklärungsbedürftigen Textstellen hypothetische, mögliche Welten
entworfen werden, in denen die Textstellen sinnvoll und nachvoll￾
ziehbar erscheinen.
Bei Eco finden wir nun drei verschiedene Typen der Abduktion:
Als Erstes die Hypothese oder übercodierte Abduktion, die dann vor￾
liegt, wenn die Regel “automatisch oder quasi-automatisch gegeben
ist” (Eco 1985: 69), wobei auch “die Interpretationen durch Codes
eine wenn auch noch so schwach ausgeprägte abduktive Leistung
voraussetzen”, denn “[e]in gegebenes Phänomen als den Token (d. i.
Äußerung; MChB) eines gegebenen Typus zu erkennen, setzt eine
Hypothese über den Kontext der Äußerung sowie den diskursiven Ko￾
Text voraus” (Eco 1995: 312f.). So muss ein Laut oder eine Lautfolge
zuerst einmal als Wort einer Sprache erkannt und somit ein Code
gewählt werden, aus dem dann “quasi-automatisch” die passende
Definition gewählt wird.4 Als Zweites ist die untercodierte Abduktion
4 So hat Christoph Luxenberg (2000) beispielsweise versucht, statt des arabi

schen einen aramäischen Code zur Entschlüsselung des Korantextes anzuwen￾
den, so dass sich “quasi-automatisch” Bedeutungsänderungen ergaben.
Grenzen der Koranexegese 87
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zu nennen, die dann vorliegt, “wenn die Regel aus einer Reihe gleich
wahrscheinlicher Alternativen gewählt werden muß.” Dabei ist zu
beachten, dass die “gewählte Regel (…) in einem gegebenen Ko-Text
die plausibelste sein” kann, aber keine Sicherheit besteht, ob sie die
richtige oder einzig richtige Regel aus den vorhandenen semiotischen
Enzyklopädien ist, weshalb ihre Wahl als vorläufig und unter Vor￾
behalt weiterer Überprüfung zu gelten hat (Eco 1985: 70f.; vgl. Eco
1995: 313). Des weiteren führt Eco die kreative Abduktion an, bei der
die Regel neu erfunden werden muss (vgl. Eco 1985: 71). Besonders
die letzte Form verpflichtet zur Überprüfung, die Eco Meta-Abduktion
nennt: “Sie liegt in der Entscheidung darüber, ob das mögliche Uni￾
versum, das wir mit unseren Abduktionen der ersten Ebene entworfen
haben, mit dem Universum unsrer Erfahrung übereinstimmt.” (Eco
1995: 314) Ähnlich wie bei der Abduktion die aufgestellte Hypothese
durch Deduktion überprüft werden muss, um sie als Regel zu verifi￾
zieren, ist auch die hypothetische Modellwelt in ihrer Konsistenz zu
überprüfen. Dies ist bei über- und untercodierten Abduktionen nur
bedingt notwendig, da in diesen Fällen die Regeln aus schon über￾
prüften, mit der Erfahrungswelt übereinstimmenden Enzyklopädien
entstammen und somit schon Gültigkeit haben. Nur die Richtigkeit
der Wahl der Enzyklopädie muss der ständigen Überprüfung unter￾
liegen.
Nullstufe der Sprache
Ein klassischer Testfall für Interpretationen sind gewiss Metaphern
als Oberbegriff für verschiedenste Formen übertragener Rede, die
aber an dieser Stelle gar nicht besonders thematisiert werden sollen.
Vielmehr betrachten wir hier einen Aspekt, den Eco als Anker für
angemessene metaphorische Interpretation einführt: eine Nullstufe
der Sprache oder eine wörtliche Bedeutung, von der erst eine Abwei￾
chung als Metapher erkennbar werden kann. In der Terminologie
Ecos unterscheidet sich die Metapher dergestalt von der Allegorie,
88 Mark Chalîl Bodenstein
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dass erstere nur im übertragenen Sinn interpretiert werden kann, da
eine wörtliche Lesart unsinnig wäre, wohingegen letztere auch wört￾
lich verstanden werden kann; lediglich die Verletzung der Gesprächs￾
maxime der Relevanz legt eine allegorische Lesart nahe. Auch schon
codierte “allegorisch erkennbare Bilder” können als Hinweise fungie￾
ren, aber auch in Vergessenheit geraten, so dass “viele Allegorien,
für die der Schlüssel verlorengegangen ist, wörtlich gelesen werden”
(vgl. Eco 1995: 192ff.). (Gleichzeitig kann es vorkommen, dass sich
vormals übertragene oder abgeleitete Bedeutungen als primäre eta￾
blieren.) Daher mag das Kriterium der sprachlichen Ökonomie zur
Bewertung herangezogen werden, das aber nur in Verbindung mit
einer Nullstufe als Referenz funktioniert.
Isotopische Ökonomie
Sowohl bei der Meta-Abduktion als auch bei der Untersuchung der
Metapher ist der Rekurs auf die festzustellende “relevante semanti￾
sche Isotopie” (Eco 1995: 141) eine Möglichkeit die Interpretation zu
prüfen, indem eine Hypothese über das “topic des Diskurses” aufge￾
stellt wird. Dieses topic darf nicht zu allgemein gewählt werden, um
die Enzyklopädie, aus der die jeweiligen Wortbedeutungen gewählt
werden, ökonomisch klein zu halten. So lässt sich die Aussage “Zaid
ist ein Löwe”5 – bei Eco muss hierfür Achilles herhalten – in der Schil￾
derung eines Zoobesuchs anders lesen, als in der eines Kampfgetüm￾
mels: Im ersten Falle ist es ökonomisch anzunehmen, dass Zaid tat￾
sächlich eine Raubkatze der Art panthera leo ist, während im zweiten
Falle, wenn wir aus dem Ko-Text wissen, dass Zaid ein Mensch ist,
der Autor entweder lügt, weil ein Mensch keine Raubkatze ist, oder
aber auf eine Ähnlichkeit abgehoben wird. Diese Ähnlichkeit liegt
gemeinhin in einer Besonderheit, hier der ausnehmenden Tapferkeit
5 So das Beispiel in al-Ǧurǧānīs Asrār al-balāġa, hier in der Übersetzung von
Ritter (1959: 264 et passim).
Grenzen der Koranexegese 89
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beider, und nicht in dem Allgemeinen, dass es sich bei beiden um
Säugetiere handelt (vgl. Eco 1995: 142). Es scheint also sinnvoll, aus
dem Ko-Text auf das naheliegendste topic zu schließen, und bei der
Interpretation der zu untersuchenden Einheit eine semantische Isoto￾
pie anzunehmen.
Drei Intentionstypen
Von den drei Intentionstypen, die Eco (vgl. 1995: 35–39) vorschlägt,
intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris, soll wohl mittels
“Verteidigung des wörtlichen Sinns” (Eco 1995: 40) vor allem die
Intention des Textes in den Vordergrund gestellt werden, die zuwei￾
len mit der Absicht des Autors – aber nicht zwangsweise – zusam￾
menfällt, und von der Intention des Lesers unterschieden wird. Denn
die legitime Vielfalt der Interpretationen ist nicht in den verschiede￾
nen und mit Zeit und Ort wandelbaren Umständen und Interessen
der Leser begründet, sondern wenn überhaupt im Text selbst. Daraus
ergibt sich eben die Unterscheidung zwischen der Interpretation eines
Textes, “der Suche nach der intentio operis”, und dessen Gebrauch, der
“Unterordnung des Textes unter die intentio lectoris” (Eco 1995: 47).
Testfälle
Wenden wir uns nun der Frage zu, inwieweit die bisherigen theoreti￾
schen Erwägungen bei der Lektüre und Betrachtung des Koran Konse￾
quenzen zeitigen, und besonders, ob Grenzen der Koraninterpretation
auf diesem Wege aufzuzeigen sind.
Dazu findet sich ein interessantes Beispiel divergierender Inter￾
pretationen beim Begriff kuffār in 57:20:
iʿlamū annamā l-ḥayātu d-dunyā laʿibun wa-lahwun wa-zīnatun
wa-tafāḫurun baynakum wa-takāṯurun fī l-ʾamwāli wa-l-ʾawlādi
90 Mark Chalîl Bodenstein
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ka-maṯali ġayṯin ʾaʿǧaba l-kuffāra nabātuhū ṯumma yahīǧu fa-tarāhu
muṣfarran ṯumma yakūnu ḥuṭāman wa-fī l-ʾāḫirati ʿaḏābun šadīdun
wa-maġfiratun mina llāhi wa-riḍwānun wa-mā l-ḥayātu d-dunyā ʾillā
matāʿu l-ġurūri
Den hier relevanten mittleren Abschnitt übersetzt Paret wie folgt:
“(…) Es ist wie (wenn) reichlicher Regen (gefallen ist), dessen
(Folgeerscheinung, üppiger) Pflanzenwuchs den Ungläubigen
Freude macht (w. gefällt) (da sie mit Sicherheit gute Ernte erwar￾
ten). Hierauf vertrocknet es (?), und man sieht, daß es gelb wird.
Hierauf wird es zu brüchigem Zeug (das zu nichts mehr zu gebrau￾
chen ist). (…)”
Mit einem längeren Einschub in Klammern wird hier die Übersetzung
„Ungläubige“ zu erklären versucht, wie sie auch in anderen Überset￾
zungen z. B. ins Deutsche (Bubenheim / Elyas 2004; Zirker 2007),
Englische6 (Arberry 2008; Sarwar 1982) und Türkische7 (Yüksel
2000; Bulaç 1983) zu finden ist. Dagegen steht die Interpretation von
kuffār als Bauern, Dörfler, Sämänner u. ä. bei Khoury (2001), Hen￾
ning (1991) und anderen. Lässt sich für diese Stelle nun unterschei￾
den zwischen guten und schlechten Interpretationen? Wollen wir
Ecos Lob der wörtlichen Bedeutung als Referenz hierzu anwenden,
müssen wir einerseits feststellen, dass ein Wörterbuch des modernen
Arabisch, wie von Hans Wehr, für kāfir/kuffār als Bedeutung “ungläu￾
big, Ungläubiger, Gottloser; undankbar” angibt, andererseits aber
unter den Verbalstämmen zuerst “bedecken, verbergen” und beim
Verbalsubstantiv kafr/kufūr “Dörfchen, Weiler” verzeichnet (vgl.
Wehr 1998: 1110f.): das semantische Feld ist also auch im moder￾
nen Arabisch noch weiter als nur der “Unglaube” und berührt eben￾
6 Vergleich zahlreicher englischer Übersetzungen unter http://www.islamawa

kened.com/index.php/qur-an (letzter Zugriff: 4.5.2015).
7 Vergleich türkischer Übersetzungen unter: http://www.kuranmealleri.net/
(letzter Zugriff: 4.5.2015).
Grenzen der Koranexegese 91
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falls das Landleben. Der wörtliche Sinn, die sprachliche Nullstufe, ist
also etwas mit “bedecken, verdecken”, was (im übertragenen Sinne)
zumindest sowohl im Bereich des Glaubens als auch des Landlebens
geschehen kann. Dieser Eindruck erhärtet (und erweitert) sich, wenn
Erläuterungen klassischer Autoren wie al-Ǧāḥiẓ oder Ibn Qutayba
herangezogen werden (vgl. Setiawan 2003: 107). Führen wir uns den
semiosischen Prozess der Abduktion vor Augen, und fragen, welcher
Abduktionstyp hier vorliegt, so ließe sich die übercodierte Abduk￾
tion ausschließen – auch wenn sie in den meisten Anwendungsfäl￾
len von kuffār zuträfe, womit wir einen Fall haben, in dem durch
die sprachformende Kraft des Korans die übertragene Bedeutung als
Grundbedeutung codiert wurde – und die untercodierte Abduktion
annehmen: es liegen zumindest die Alternativen “Ungläubiger” und
“Dorfbewohner/Bauer” vor, aus denen auszuwählen ist. Da der wei￾
tere Ko-Text des Korans häufig k-f-r in der Deutung “Unglaube” nahe￾
legt, ist es nicht unsinnig, diese Wahl auch hier zu treffen. Bedenken
wir jedoch die Idee der semantischen Isotopie und fragen, wovon an
dieser Stelle eigentlich die Rede ist, so müssen wir feststellen, dass
mit nabāt (“Pflanzen”) der Bereich des Landlebens angesprochen
wird, in dessen Zusammenhang es ökonomisch erscheint, kuffār als
Bauern oder ähnliches zu deuten (dagegen steht der unökonomisch
lange Klammereinschub bei Paret). Der inhaltliche Bruch mit vorher￾
gehenden Versen, die als topic durchaus Glaube und Unglaube sowie
dessen Lohn haben, wird zudem mit dem im Koran üblichen ka-maṯal
als Hinweis für ein Gleichnis eingeleitet, worauf das quasi barocke
vanitas-Landlebenmotiv folgt. (Wenn ein Übersetzer noch der ganzen
Allegorie zu Leibe rücken und diese deuten wollte, müsste das ganze
Gleichnis und nicht nur der kāfir gemäß der Isotopie von Glaube/
Unglaube übersetzt werden.) In diesem Fall scheint es also ein Leich￾
tes zu sein, die “schlechte” Interpretation mithilfe der “isotopischen
Ökonomie” ausfindig zu machen, was im Zweifelsfalle sogar dem
aufmerksamen Leser im Vergleich mehrerer Übersetzungen gelingen
könnte.
92 Mark Chalîl Bodenstein
Urheberrechtlich geschütztes Material
Ein weiterer Fall, der hier in aller Kürze behandelt werden soll, fällt
in den Bereich des tafsīr ʿilmī, dem Versuch, aus dem Koran spätere
naturwissenschaftliche Vorstellungen herauszulesen. So findet sich
beispielsweise in der englischen Koranübersetzung von Edip Yüksel
(Yüksel / Shaiban / Schulte-Nafeh 2007) – ähnlich auch etwa bei
Süleyman Ateş (vgl. Öztürk 2011: 59) – schon in den Erläuterungen
zu 27:88 (der Vers ist schon mit “Earth’s Motion” überschrieben) der
Verweis auf das (auf Alfred Wegeners erst Anfang des 20. Jahrhun￾
derts aufgestellte Theorie der Kontinentalverschiebung basierende)
Modell der Plattentektonik. Die gängige Interpretation, die auch Mus￾
tafa Öztürk in seiner Kritik an Ateş anführt, als eines der Ereignisse
am jüngsten Tag (vgl. Öztürk 2011: 60), wird hier bewusst verwor￾
fen. Betrachten wir nun diesen Vers 27:88:
wa-tarā l-ǧibāla taḥsabuhā ǧāmidatan wa-hiya tamurru marra s-saḥābi
ṣunʿa llāhi llaḏī ʾatqana kulla šayʾin ʾinnahū ḫabīrun bi-mā tafʿalūna.
“Und du siehst (dann) die Berge, von denen du meinst, daß sie
unbeweglich seien, sich von der Stelle bewegen, wie Wolken das
tun. (Das ist) das Werk Gottes, der alles (auf der Welt) gut ange￾
ordnet hat. Er ist wohl darüber unterrichtet, was ihr tut.”
Für sich alleine genommen lässt sich der Vers in wörtlicher Lesart
(auf der sprachlichen Nullstufe) nicht auf die (derzeit noch) reale
Welt der Leser beziehen, was entweder als Hinweis auf eine allego￾
rische Deutung gelten kann, oder auf eine “mögliche Welt”, wie sie
auch in narrativen Texten in mehr oder weniger möblierter Ausfor￾
mung entworfen werden (vgl. Eco 1995: Kap. 3.5 “Kleine Welten”).
Eine dieser möglichen Welten, die man im semiosischen Prozess, hier
vermutlich im Sinne einer kreativen Abduktion, entwirft, mag für den
heutigen Leser mit den naturwissenschaftlichen Theorien möbliert
sein. Im Zuge der Meta-Abduktion, bei der Überprüfung auf inner￾
textliche Kohärenz unter Berücksichtigung des Ökonomiekriteriums
(ökonomische Isotopie), ist festzustellen, dass der direkte Ko-Text,
die benachbarten Verse, als topic den jüngsten Tag explizit benen-
Grenzen der Koranexegese 93
Urheberrechtlich geschütztes Material
nen: 27:87 “wa-yawma yunfaḫu fī ṣ-ṣūri (…)” (“Und am Tag, da (zur
Gerichtsversammlung) in die Trompete geblasen wird! (…)”). Ebenso
ist an anderen Textstellen mit sich bewegenden Bergen, wie 52:10,
als topic der jüngste Tag ersichtlich, so dass unter den vorstellbaren
möglichen Welten eine endzeitliche die größere und ökonomischere
isotopische Kohärenz und damit Wahrscheinlichkeit besitzt.
Problematischer, im Sinne der hier angestrebten textimmanenten
Grenzbestimmung der Interpretation, scheint der Fall von 9:122 zu
sein, auf den Ömer Özsoy zuletzt hingewiesen hat (vgl. Özsoy 2014:
54), und den Rudi Paret schon ausführlicher diskutiert hat und exem￾
plarisch die Bedeutung der historischen Einbettung eines Verses für
die Interpretation aufzeigen konnte (vgl. Paret 1953).
wa-mā kāna l-muʾminūna li-yanfirū kāffatan fa-law-lā nafara min
kulli firqatin minhum ṭāʾifatun li-yatafaqqahū fī d-dīni wa-li-yunḏirū
qawmahum ʾiḏā raǧaʿū ʾilayhim laʿallahum yaḥḏarūna.
“Und die Gläubigen können unmöglich geschlossen ausrücken.
Warum rückt dann nicht von jeder Abteilung von ihnen eine
Gruppe aus, damit sie sich in der Religion unterweisen lassen und
ihre Leute warnen, wenn sie zu ihnen zurückkommen? Vielleicht
werden sie sich in acht nehmen.”8
Hier besteht in der Exegese Uneinigkeit hinsichtlich der Bedeutung
des Verbs nafara und der in den Teilsätzen jeweils gemeinten Sub￾
jekte. Für den Vers allein lässt sich zwar das topic der religiösen
Belehrung feststellen, durch den im Ko-Text aber wiederholt thema￾
tisierten Kampf und die Verwendung des Verbs nafara für “(nicht) in
den Kampf ausrücken”, in den Versen 9:38–39, 41 und 81, ist es aber
nicht unökonomisch anzunehmen, dass hier eine mögliche Welt ent￾
worfen wird, in der eben die religiöse Unterweisung in Kampfzeiten
geregelt wird. Die anfangs kurz angesprochene nachträgliche Kompo￾
8 Hier die Paret’sche Übersetzung ohne Klammereinschübe.
94 Mark Chalîl Bodenstein
Urheberrechtlich geschütztes Material
sition des Korantextes und hier die Einordnung des Verses an diese
Stelle (vgl. Paret 1953: 235), womit möglicherweise die intentio operis
nicht mehr mit der intentio auctoris zusammenfällt, wie das bei narra￾
tiven Texten häufig anzunehmen ist, sondern mit der intentio lectoris
der Kompilatoren, erschwert vermutlich nicht nur an dieser Stelle die
Bestimmung des ursprünglichen topic, da nicht allein die vorgefun￾
dene innere Kohärenz des Textes, als vielmehr der aus externen Quel￾
len rekonstruierte Kontext mit in die Auswahl an jeweils möglichen
Welten einbezogen werden muss.
Schluss
Wenn wir nun Kriterien zur Falsifizierung von Fehlinterpretationen
entwickeln, welche die Idee der inneren Kohärenz des Textes berück￾
sichtigen, stehen wir zuerst vor dem Problem, die Nullstufe der kora￾
nischen Sprache zu definieren, von der aus sämtliche weiteren semio￾
sischen Prozesse ausgehen. Mir scheint diese Frage, die zugleich eine
nach dem Modell-Leser ist, eine ideologische zu sein, die u. a. mit dem
Anspruch der Universalität des Koran verknüpft ist. Behaupten wir
nun, dass die Nullstufe der koranischen Sprache in den “wörtlichen”
Bedeutungen des Arabischen zur Zeit der Offenbarung zu finden sei,
also die Ersthörer den spezifischen linguistischen Code beherrschten,
spätere Hörer und Leser aber durch den Sprachwandel sich immer
weiter davon entfernten und somit im Zweifel auch nicht die richtige
Sprachebene zur Entschlüsselung wählten, dann liegt einerseits die
Vermutung nahe, dass der vom Korantext vorgesehene Modell-Leser
der Ersthörer war, und dass in nachfolgenden Generationen bis heute
ein Verstehen im Sinne des Textes nur einer mehr oder weniger klei￾
nen Gruppe von Gelehrten möglich war und ist, die das Arabische des
siebten Jahrhunderts so beherrschen wie die Ersthörer. Mehr noch,
müssen sie in der Lage sein, geistig vollständig ins Diskursuniversum,
in die Gedankenwelt der damaligen Zeit einzutauchen, um die Refe￾
renzen im Text so verstehen zu können, wie sie der Text intendiert,
Grenzen der Koranexegese 95
Urheberrechtlich geschütztes Material
und bei der Interpretation auch das Spiel der kreativen und Meta￾
Abduktion beherrschen. Sofern dies möglich wäre, könnten wir zwar
für die Ersthörer noch die Unterscheidung zwischen naivem und kri￾
tischem Leser/Hörer treffen, der einerseits den Text so liest und zum
Sprechen bringt, wie er vorgesehen ist, und andererseits schon analy￾
siert, wie der Text funktioniert, dürften für spätere Zeiten aber kaum
mehr einen naiven Leser finden, der den Text nicht automatisch fehl￾
interpretierte. Dies wäre in Post-Gutenberg-Zeiten der ständigen Ver￾
fügbarkeit des Korans eine enttäuschende Diagnose, die nach einer
Entdemokratisierung der Koranlektüre verlangte, um den Text vor
fahrlässigem Ge- und Missbrauch zu schützen.
Die gegensätzliche Vorstellung wäre, dass der Koran für alle Zei￾
ten und Orte allen verständlich ist, was gemäß der oben getroffenen
Unterscheidung hieße, den Koran als geschlossenen Text zu verste￾
hen, der seinen Leser nur sehr unbestimmt voraussetzt und sprach￾
lich eindeutig oder übercodiert ist, in allen Fällen ein eins-zu-eins￾
Verhältnis von Zeichen und Bedeutung/Funktion aufweist (wie ein
Telefonbuch oder ein Fahrplan), so dass selbst die Metaphorik keinen
Spielraum für legitime Kreativität lässt. Dann wäre in der Tat jede
abweichende Lesart ein Gebrauchen des Textes, weil sie nur noch aus
äußeren Motiven des Lesers in seinem jeweiligen Kontext zu begrün￾
den wäre, aber nicht im Text selbst.
Da der Koran aber kaum als geschlossener Text betrachtet werden
kann und unsere Frage nicht primär auf den vom Koran vorgesehe￾
nen Modell-Leser zielte9, soll doch zumindest für den aufmerksamen
Leser festgestellt werden, dass auch unter zwangsläufiger Vernachläs￾
sigung der sprachlichen Nullstufe und möglicher Textreferenzen die
Beachtung der ökonomischen Isotopie bei der Bewertung divergieren￾
der Interpretationen zwar nicht immer zur Falsifikation, aber doch
zu veränderter Bewertung der Plausibilität von Interpretationen und
Übersetzungen führen kann. Die Aufforderung aus 2:121, die Schrift
9 Auch wenn dies eine wichtige, noch zu klärende Frage scheint, die Einfluss
hat auf die dringend notwendige Erforschung von Diskursuniversen und
semantischen Enzyklopädien der Ersthörer des Korans.
96 Mark Chalîl Bodenstein
Urheberrechtlich geschütztes Material
in der rechten Weise zu lesen, bedeutet heute wohl, ein kritischer
Leser zu sein, der sich des abduktiven Prozesses der Interpretation
bewusst ist: kreativ bei der Hypothesenbildung und Ausgestaltung
möglicher Welten, skrupulös bei der prüfenden Meta-Abduktion.
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Urheberrechtlich geschütztes Material
Der Islam als Objekt und Subjekt
der Wissenschaft
Reinhard Schulze*
Abstract
Der Status der akademischen Disziplin der islamischen theolo￾
gischen Studien bedarf einer genaueren Bestimmung. Die kon￾
ventionelle Differenzierung von der Islamwissenschaft und der
Orientalistik mittels der Unterscheidung zwischen Binnen- und
Außenperspektive ist wissenschaftstheoretisch nicht sinnvoll.
Vielmehr sind es die axiomatischen Voraussetzungen, die Absicht
der Erkenntnisgewinnung und der soziale Ort der Bewährung des
gewonnenen Wissens, die die Ausdifferenzierung der islamischen
theologischen Studien im Kanon der Geistes- und Sozialwissen￾
schaften bestimmen.
I
Moderne Wissenschaft hat die Aufgabe, so heißt es gemeinhin, alle
Einzelerkenntnisse eines definierbaren Gegenstandsbereiches in rati￾
onaler, verwendbarer und lehrbarer Weise gesamthaft darzustellen,
mit dem Ziel, das Wissen zu vermehren, zu erweitern und zu korri￾
gieren. Wirklichkeitszusammenhänge sollen mittels Theorien erklärt
werden, welche sich empirisch bestätigen lassen, und die so erarbei￾
teten Erkenntnisse sollen prinzipiell reproduzierbar sein. Affirmativ
grenzte sich diese moderne Wissenschaft von Mythos, Kunst und
Religion, Meinen und Glauben ab. Dieses moderne Wissenschaftsver-
* Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie, Universi

tät Bern.
100 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
ständnis selbst war schon seit dem frühen 19. Jahrhundert Gegen￾
stand der Wissenschaft. Die Frage entstand, ob wissenschaftliche The￾
orien allein aus der empirischen Beobachtung entstehen und in einer
sich aus dieser entwickelnden Verallgemeinerung allein induktive
Rechtfertigungsgründe haben, oder aber ob der Gebrauch von theore￾
tisch sinnvollen Ausdrücken in Theorien nicht auch einen anderen
Rechtfertigungsgrund haben kann. Sinnvolle Ausdrücke, die Theo￾
rien bildeten, sollten, so wurde behauptet, nicht allein auf die Funk￾
tion, Beobachtbares allgemein zu bestimmen und Aussagen über ihre
Gründe und Funktionen zu treffen, beschränkt werden. Zwar galt
diese Frage vornehmlich der Mathematik und der Logik1, doch ließ
sie sich auch auf andere Wissenschaften übertragen, hier vor allem
auf die Theologie. So ist zu fragen: Kann der Gebrauch von sinnvollen
Ausdrücken in Theorien auch dadurch Rechtfertigung erfahren, dass
er sich auf Wissen bezieht, das nur vermittelt empirisch ist? Nehmen
wir als Beispiel den Koran: Er ist ohne Zweifel eine empirische Tat￾
sache, über die verschiedene Sachverhalte ausgesagt werden können.
Der Koran verweist aber auf eine Wahrheit, die nur er zu “kennen”
behauptet. Nichttheologische Wissenschaften können nun den Koran
beobachten, daraus allgemeine Schlüsse ziehen und Theorien bilden.
Doch kann die im Koran repräsentierte Wahrheitsordnung damit
selbst der Rechtfertigungsgrund für sinnvolle Ausdrücke sein?
Ausgangspunkt bilden dann zunächst sogenannte Basisbegriffe,
also Begriffe, die die axiomatische Grundlegung beschreiben. Diese
sind nie zeitlos, sondern stets von den Kontexten abhängig, in denen
das “religiöse Wissen” Verwendung findet.2 Dann gälte es anzuerken￾
1 So zum Beispiel im Kontext der semantischen Rechtfertigung, hierzu kritisch:
Hinst 1978: 52–69, hier 69: “Es ist eine verbreitete Auffassung, dass ein mit￾
hilfe von Ableitungsregeln und Axiomen definierter logischer Ableitbarkeits￾
begriff einer semantischen Rechtfertigung bedarf. Diese Rechtfertigung wird
darin gesehen, dass ein Folgerungsbegriff im Rahmen einer Interpretations￾
semantik zu definieren und dann zu zeigen ist, dass der Ableitbarkeitsbegriff
mit dem Folgerungsbegriff äquivalent ist (semantische Korrektheit und Voll￾
ständigkeit des Ableitbarkeitsbegriffes). Die Grundlegung einer Logik wird
also nach dieser Auffassung durch eine Interpretationssemantik geleistet.”
2 Z. B. von Stosch 2007: 27–42.
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 101
Urheberrechtlich geschütztes Material
nen, dass der Wahrheitsbegriff der Wissenschaft, auf dessen Grund￾
lage die Deduktion wahrer Aussagen aus der zugrunde liegenden
Axiomatik erfolgt, ein anderer ist als der, der diese Axiomatik selbst
bewahrheitet. Letztere Wahrheit könnte zum Beispiel der Wortoffen￾
barung Gottes zugrunde gelegt werden.3 Entscheidend für das Gelin￾
gen theologischer Rede jenseits scholastischer Vorstellungswelten ist
die Anerkennung dieser Differenz.
Rechtfertigung, so sagen manche, sei eine Bedingung, die
eine Überzeugung erfüllen muss, um Wissen zu sein. Als allgemein
gerechtfertigt gilt das, auf das sich freie und gleiche Personen im
wechselseitigen und allgemeinen Interesse einigen können. Rechtfer￾
tigung ist daher vom Begriff der Wahrheit zu unterscheiden. Gewiss,
die Wahrheit einer Überzeugung wird nicht durch Rechtfertigungen
garantiert, wohl aber kann und sollte eine Rechtfertigung dadurch
“gut” sein, dass sie ein “gutes Mittel” auf dem Weg zur Wahrheit dar￾
stellt (vgl. Hofmann 2005: 357–369).
Christliche Theologien an deutschen Universitäten bedienen
sich selten solcher Rechtfertigungen. Sie können sich darauf beru￾
fen, dass sie seit der Scholastik zusammen mit der Jurisprudenz und
Medizin zu den höheren Fakultäten zählten und damit zum Urgestein
der Universität gehören. Die Debatten um die Einrichtung islamischer
theologischer Studien hingegen hat die Frage, wie sich Theologie als
Wissenschaft rechtfertigen lasse, neu belebt. Hier muss allerdings
einschränkend gesagt werden, dass sich bislang noch kein interkon￾
fessionelles Rechtfertigungsanliegen ergeben hat. Zwar stimmen die
christlichen Theologien mehrheitlich der Einrichtung islamischer
theologischer Studien zu, doch hat sich hieraus noch kein Interesse
an einer gemeinsamen Reflexion über die Rechtfertigung der eigenen,
geltend gemachten Wissenschaftlichkeit ergeben. Angebote hierzu
gibt es in genügender Zahl. Ich denke da an Überlegungen zum Bei￾
spiel zeitgenössischer katholischer Theologen wie Klaus Müller, Bernd
3 Aus evangelischer Perspektive: Körtner 2001: 363ff.
102 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
Irlenborn oder Edmund Arens4. Oder aber, um die protestantische
Theologie anzusprechen, an Wolfhart Pannenbergs Wissenschafts￾
theorie der Theologie: Pannenberg behauptet, sinnvolle theologi￾
sche Ausdrücke könnten nur als Hypothesen formuliert werden, in
denen sich überlieferte Behauptungen an der gegenwärtigen Erfah￾
rung bewähren müssten. Da diese Bewährung nur indirekt geschehen
könne, dürfe die Theologie die Wahrheit der Glaubensaussagen auf￾
grund der Autorität eines Offenbarungsgeschehens auch nicht formal
voraussetzen; vielmehr sei es ihre Aufgabe, diese Wahrheit inhaltlich
zu begründen.5
Theologien müssen sich also, so Pannenberg, in den Erfahrun￾
gen der Menschen, mit denen sie das Überlieferungswissen teilen,
bewähren. Bewähren müssen sich natürlich auch naturwissenschaftli￾
che Theorien. Nur ist bei den Theologien eine doppelte Spezifikation
gegeben: Sie formulieren ihre Hypothesen mit Traditionswissen, und
sie erkennen ihren Bewährungsort in der Gemeinschaft derjenigen,
die diesem Traditionswissen zugeschrieben sind.
Eine wissenschaftliche Theorie, die sich nicht bewährt, hat einen
schweren Stand. Das gilt für Geistes-, Sozial-, Natur- und theologische
Wissenschaften gleichermaßen. Ort der Bewährung ist dabei zunächst
die Gemeinschaft der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen. Doch
im Unterschied zu den Naturwissenschaften ist der Bewährungsort
der Geistes-, Sozial- und theologischen Wissenschaften weiter gefasst:
Da sie reflexive Selbstthematisierung des Menschen sind, machen sie
den Menschen selbst zum Gegenstand ihrer Beobachtung, also zum
Sachverhalt; hierdurch gewinnt der Mensch die Möglichkeit, Erkennt￾
nisse über sich selbst zu gewinnen und hieraus rechtfertigende Urteile
abzuleiten. Das aber bedeutet zugleich auch, dass sich die Geistes-,
Sozial- und theologischen Wissenschaften auch ausserhalb der akade￾
mischen Welt “bewähren” müssen.
4 Die Fragestellung begann mit Bolzano 1834; zur aktuellen Diskussion siehe
Müller 2012; Irlenborn 2004: 27–44; Arens 1990: 1–17.
5 Siehe Pannenberg 1987; außerdem Sauter 1980: 161–168.
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 103
Urheberrechtlich geschütztes Material
II
Ich bin kein Theologe, daher geht es mir nicht darum, zu diskutieren,
ob wissenschaftliche Aussagen im oben genannten Sinne theologisch
gerechtfertigt werden können. Mein Anliegen ist hingegen zweierlei:
Erstens gilt es zu erörtern, wie die Eingliederung der islamischen
theologischen Studien in das Gefüge der akademischen Welten an
säkularen Universitäten gerechtfertigt werden kann.
Zweitens gilt es zu fragen, wie das Selbstverständnis der islami￾
schen theologischen Studien bestimmt werden kann. Dies ist – aus
meiner Sicht – eben nicht allein Aufgabe der islamischen theologi￾
schen Studien selbst. Denn erst wenn sich ihr akademisches Selbstver￾
ständnis im Konsens mit nichttheologischen Wissenschaften gefunden
hat, werden auch Forschungen, die die islamischen theologischen
Studien entfalten, in nichttheologischen Wissenschaften Anerken￾
nung finden. Erst dann wird sich der interdisziplinäre Transfer von
Wissen sinnvoll gestalten lassen; denn genau dies ist ja auch ein Ziel
der islamischen theologischen Studien: Wissen, das in islamischer
Absicht gewonnen wurde, allgemein den Wissenschaften zur Verfü￾
gung zu stellen.
Absicht ist ein “vorwärtschauendes Motiv”, hat der Würzburger
Philosoph Peter Prechtl einmal gesagt (vgl. Prechtl 2008: 4). Wissen￾
schaft in islamischer Absicht bedeutet mithin, Forschungen dadurch
zu motivieren, dass sie vorwärtsschauend die Bedeutungswelten, die
im Begriff Islam zusammengefasst sind, weiter ausgestalten, beste￾
hende Ausgestaltungen kritisch fortschreiben oder gar neue Bedeu￾
tungswelten erschaffen.
Die islamischen theologischen Studien stehen gerade hier vor
gewaltigen Herausforderungen. Ich will nur fünf ansprechen:
Erstens: Da die islamischen theologischen Studien an säkularen
Universitäten ihre akademische Heimstätte gefunden haben, müssen
sie sich mit der Frage auseinandersetzen, wie ihre Wissenschaftlich￾
keit gerechtfertigt werden kann. Die Antwort kann sich nicht darin
erschöpfen, geltend zu machen, dass sie islamisches Traditionswis-
104 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
sen “von innen”, also aus einer “Innenperspektive” bearbeitet. Die
ursprünglich aus der Anatomie stammende Metapher der Innen- und
Aussensicht, die zunächst in die Pädagogik, dann in die Erzählthe￾
orie Eingang gefunden hat, taugt so wenig für die Rechtfertigung
islamischer theologischer Studien. Dies belegen gerade auch die
Forschungen in den christlichen Theologien. Ein Großteil der For￾
schungstätigkeit unterscheidet sich weder inhaltlich noch formal von
Forschungen in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Mehr
noch: Kaum eine dieser Forschungen würde ihrer raison d’être durch
die Behauptung Geltung verschaffen, sie seien Hilfswissenschaften
für einen höheren theologischen Zweck.
Kenneth Lee Pike hatte 1954 die Differenz mit den Begriffen
“emisch” und “etisch” charakterisiert: Die emische Perspektive sucht
danach, wie eine Gruppe von Menschen denkt, hingegen formuliert
die etische Perspektive die Erkenntnisse in Form von wissenschaft￾
lichen Kategorien, die “von außen” an das Denken dieser Gruppe
herangetragen werden (vgl. Pyke 1954). Islamische theologische
Studien, die ihre Geltung allein daraus ableiten, eine emische Pers￾
pektive zu vertreten, können also streng genommen keine Wissen￾
schaft sein. Die reflexive Selbstauslegung, die jeder Theologie inne￾
wohnt, braucht demnach gerade auch eine Außenperspektive, die
durch den Konsens, wie wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen
werden, bestimmt ist. Was als Eigentümlichkeit der islamischen
theologischen Studien angesehen werden kann, ist also die “islami￾
sche Absicht”. Aufgabe der anderen Geistes- Sozial- und theologi￾
schen Wissenschaften an den Universitäten wird es demnach sein,
diese “Absicht” als legitimes Motiv wissenschaftlicher Erkenntnis
anzuerkennen. Gelingt beides nicht, dann werden die islamischen
theologischen Studien zum Mauerblümchen, zu Aussenseitern an
den Universitäten.
Zweitens: Die islamischen theologischen Studien müssen sich –
sehr viel mehr als die durch Kirchen organisierten Christentümer –
die muslimischen Gemeinden als “Sitz im Leben”, um einen Begriff
von Hermann Gunkel zu benutzen, erschliessen. Die schöne Metapher
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 105
Urheberrechtlich geschütztes Material
“Sitz im Leben” ist hier aber nicht literarisch zu verstehen.6 Vielmehr
soll der “Sitz im Leben” soziale Orte bezeichnen, mithin Vorstellungs￾
welten, in denen sich äußere Ordnungen spiegeln und deren Parti￾
zipationsgrenzen durch Gruppenzugehörigkeiten bestimmt sind. So
ist zum Beispiel der soziale Ort politischen Handelns die bürgerliche
Gesellschaft, die sich in Ordnungen wie Nation, Kultur oder Klasse
interpretiert (Llanke 2007: 167–170). Der soziale Ort ist zugleich ein￾
gebettet in einen “sozialen Raum” oder eine Institution, in der sich
temporär oder dauerhaft eine soziale Vergemeinschaftung über Kom￾
munikation vollzieht. Man kann den “sozialen Raum” auch verstehen
als “Zone einer Kooperation, in der sich das sprachliche Schaffen voll￾
zieht” (Bronckart 1985: 31). Die islamischen theologischen Studien
müssen also die Möglichkeit haben, eine bildungspolitische Rückwir￾
kung zu entfalten. Sie müssen die Gemeinden schlicht davon überzeu￾
gen, dass es nützlich ist, dass es islamische theologische Studien gibt.
Einen solchen Legitimationsdruck kennen die christlichen Theologien
nicht. Sie gibt es, weil es sie immer schon gab und weil die Kirchen
es so wollen. Die islamischen theologischen Studien hingegen gibt
es, weil sich muslimische Akademiker auch die Aufgabe stellen, den
muslimischen Gemeinden eine wissenschaftlich erarbeitete Bildung
anzubieten, die zum einen den in sehr unterschiedlichen Tätigkeits￾
feldern im Umfeld einer Moscheegemeinde sinnvoll ist, zum anderen
aber auch so etwas wie Allgemeinbildung darstellt.
Drittens: Zu Recht wird von Vertretern der islamischen theologi￾
schen Studien betont, dass ihr Bemühen zunächst der wissenschaftli￾
chen Erkenntnis dient und dass sie Grundlagenforschung betreiben.
Das bedeutet, die Verfasstheit des “Islam”7 selbst in den Blick zu neh￾
6 Hermann Gunkel, der Anfang des 20. Jahrhunderts den Terminus “Sitz im
Leben” für die Psalmen-Deutung eingeführt hatte, war davon ausgegangen,
dass es zum Begriff einer antiken Gattung gehöre, dass sie einen ganz bestim￾
mten “Sitz im Leben” habe, siehe Gunkel 1914: 42–68.
7 Das Wort “Islam” steht als der Name für sehr viele verschiedene Bedeutungen,
die durch den Gebrauch eines offenen “Lexikons” von Begriffen, Aussagen
und Praktiken, die narrativ-historisch oder normativ als Teil eines Traditions￾
gefüges gedeutet werden, dessen Genealogie auf den Koran, die Propheten-
106 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
men. Dabei sind sie mit einer Desintegration des Islam als Ordnung
konfrontiert, die sich in erschreckendem Masse beschleunigt. Dies ist
beileibe kein allein islamisches Problem. Alle Religionsordnungen
sind von ihrer Desintegration betroffen, insofern der sie seit der Neu￾
zeit charakterisierende generische Begriff “Religion” seine Integrati￾
onskraft zu verlieren droht; besonders sichtbar ist dieser Prozess aber
in der islamischen Ökumene: Auch hier schrumpft der Raum, in dem
der Islam als Religion eine Ordnung abbildet, die komplementär zur
Gesellschaft Menschen sinnvolle Werthaltungen anbietet, aus denen
die Akzeptanz gerade auch gesellschaftlicher, von der Religion unab￾
hängiger Regeln und Normen gewonnen wird. Stattdessen entstehen
neue Ordnungen der Islamität jenseits des altehrwürdigen Konsen￾
ses, dass der Islam eine Religion sei. Ich denke hier vor allem einer￾
seits an die sich seit 15–20 Jahren herausbildende ultraislamischen
Bünde, deren bislang radikalste Verfechter sich jetzt im sogenannten
“Islamischen Staat” zusammengefunden haben, und andererseits an
rein private, lebensweltliche Gestaltungen einer Islamität, die sich in
einer konsumorientierten Erlebnisfrömmigkeit artikuliert. Islamische
theologische Studien können meines Erachtens diesen Zerfall ihres
eigenen Subjekts nicht ignorieren. Da dieses Subjekt ja, zumindest im
Sinne von Pannenberg, als Ort der Bewährung gedacht werden kann,
müssen sich die islamischen theologischen Studien die Frage gefallen
lassen, wie sie diesem Zerfall begegnen wollen.
“Sicher auch nicht durch allerlei tolerantes Geplauder, durch
allerlei unverbindlichen Meinungsaustausch, sondern sicher nur
so, dass von hüben und drüben im Glauben geredet wird, solange
wir überhaupt noch miteinander reden können.” (Barth 1939: 56)
So hatte Karl Barth 1939 die protestantischen Theologen angespro￾
chen, als er sie aufforderte, dem deutschen nationalsozialistischen
tradition und möglicherweise auch auf die Prophetenvita zurückgeführt wird.
Islam ist also eine Gesamtheit von Handeln, Bedeutung und Rechtfertigung.
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 107
Urheberrechtlich geschütztes Material
Regime die Stirn zu bieten. Das ist natürlich eine eigentlich unstatt￾
hafte anachronistische Analogie. Und doch gibt es eine Parallele: Im
Nationalsozialismus hatten die christlichen Kirchen ihren Bewäh￾
rungsort verloren. Heute droht den islamischen theologischen Studien
unter völlig anderen Bedingungen und in einer völlig anderen Situa￾
tion Ähnliches. Anfang September 2014 publizierten sechs britische
Imame eine Fatwa gegen den “Islamischen Staat” (IS) und legten fest:
“Der Islamische Staat ist eine ketzerische und extremistische Orga￾
nisation. Es ist aus religiösen Gründen verboten, ihr beizutreten.”8
Mitte September 2014 folgte ein vom ägyptischen Großmufti Shawqī
Ibrāhīm ʿAbdalkarīm ʿAllām initiierter “offener Brief” an den Führer
des “Islamischen Staats”, den 126 Vertreter islamischer Institutionen
weltweit unterzeichnet hatten und der dem “Islamischen Staat” jeg￾
liche Legitimität absprach.9 Diese beruhe auf der Tatsache, dass der
“Islamische Staat” 21 islamische Verbote breche und vier Ordnungen,
die im Islam als gestattet angesehen werden, untersage. Während sich
diese Erklärung an klassischen Formen der kasuistischen Apologe￾
tik orientierte, argumentierten sechs islamische Theologen an deut￾
schen Universitäten in ihrer am 1. September 2014 veröffentlichten
Stellungnahme prinzipiell: “Die Deutungshoheit über den Islam darf
nicht Extremisten und Gewalttätern überlassen werden und muss (…)
aus der Mitte der Gesellschaft heraus – unter anderem an den Univer￾
sitäten – erfolgen.”10 Natürlich heißt das nicht, dass die islamischen
theologischen Studien ihre Forschung allein auf das aktuelle Problem
8 http://www.aobm.org (letzter Zugriff: 29.11.2014).
9 Vgl. http://lettertobaghdadi.com/ (letzter Zugriff: 29.11.2014).
10 Vgl. Stellungnahme der VertreterInnen der Standorte für Islamisch-Theologi

sche Studien in Deutschland, Goethe-Universität: http://www.uni-frankfurt.
de/51847589/Stellungnahme (letzter Zugriff: 29.11.2014). Es sei dahinge￾
stellt, ob hier “Deutungshoheit” der passende Ausdruck ist; denn konventio￾
nell wird eine “Deutungshoheit” dort gesehen, wo es um die konkrete Umset￾
zung eines Letztbegründungs-Anspruches zu Gunsten dessen geht, was ein
Träger der Deutungshoheit als Berechtigung und/oder Wahrheit zu erkennen
glaubt. So der kunstvolle Satz des anonymen Autors im WIKIPEDIA-Eintrag
zu “Deutungshoheit”: http://de.wikipedia.org/wiki/Deutungshoheit (letzter
Zugriff: 29.11.2014).
108 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
der Desintegration hin ausrichten sollen. Auch Karl Barth arbeitete,
als er seinen dramatischen Appell an die protestantischen Theologen
richtete, weiter an seiner Gotteslehre. Wohl aber dürfen sich die isla￾
mischen theologischen Studien nicht der Wirklichkeit entziehen, in
deren Kontext sie ihre eigenen Traditionsbestände erforschen. Der
“Sitz im Leben” ist eben nicht allein die ursprüngliche Entstehungs￾
situation beziehungsweise Funktion islamischer Gründertexte, son￾
dern die gegenwärtige Umwelt, in der sich das Islamische vollzieht.
Dies verlangt die den Geistes- und Sozialwissenschaften wie auch den
Theologien ureigene Selbstreflexivität.
Viertens: Die islamischen theologischen Studien stehen im Wett￾
bewerb mit Institutionen, die in der altislamischen Welt als Stätten
islamischer Wissensverwaltung und Wissensproduktion Anerken￾
nung gefunden haben. Das dort gepflegte Wissenschaftsverständnis
unterscheidet sich zum Teil erheblich von den Anliegen der hiesi￾
gen islamischen Theologien. Der Unterschied liegt weniger in der
Methodologie und Theoriebildung als in der Absicht. An den altis￾
lamischen Institutionen wie der al-Azhar dominiert ein rückwärts￾
schauendes Motiv, das vor allem darauf zielt, überlieferte islamische
Wissensbestände in Wert zu setzen und darzulegen. Zugleich erhe￾
ben sie einen hegemonialen Anspruch, insofern sie sich als eigent￾
liche Autorität der islamischen Traditionssicherung ansehen. Die
islamischen theologischen Studien etablieren sich so in Differenz zu
den klassischen Traditionen islamischer wissenschaftlicher Ausbil￾
dung. Zwar sind die islamischen theologischen Studien nicht von
der Anerkennung durch die altislamischen Institutionen abhängig,
doch dürfte es dennoch sinnvoll sein, sich zumindest ihrer Duldung
zu vergewissern.
Fünftens: Anders als das Christentum oder das Judentum unter￾
liegt der Islam einer verschärften Beobachtung und Beurteilung durch
eine nichtislamische Öffentlichkeit. Der “Sitz im Leben” erscheint
hier verschoben. Daher erwarten manche von den islamischen theo￾
logischen Studien einen “Richtigstellungsdiskurs”, etwa hinsichtlich
der Beurteilung des gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterrichts,
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 109
Urheberrechtlich geschütztes Material
der Vollverschleierung oder der Bedeutung von Minaretten.11 Aus
akademischer Perspektive aber ist ein solcher “Richtigstellungsdis￾
kurs” nicht zwingend. Gewiss, einzelne Akademikerinnen und Aka￾
demiker der islamischen theologischen Studien haben hier eine Infor￾
mationsverantwortung, nicht jedoch die Gesamtheit der islamischen
theologischen Studien. Andernfalls liefen sie der Gefahr, zu einer
institutionellen Autorität zu werden, gewissermaßen zu einer Stätte
der Rechtsauskunft (dār al-iftāʾ), der sich islamische wie nichtislami￾
sche Öffentlichkeiten bedienten. Eine solche Institution kann in der
Logik des Wissenschaftssystems nur außerhalb der Universität liegen.
Gewiss darf von den islamischen theologischen Studien erwartet wer￾
den, dass sie auch für die nichtmuslimische Öffentlichkeit die Rolle
als Experten übernehmen und dass sie sich mit der Rechtsauskunft￾
spraxis und der Lehrautorität in den muslimischen Gemeinden befas￾
sen und geeignetes Wissen zur Verfügung stellen, um die Qualität der
Autoritätspraxis in den Gemeinden nachhaltig zu sichern und weiter￾
zuentwickeln.
Dies sind nur fünf der Herausforderungen, vor die die islami￾
schen theologischen Studien gestellt sind.
III
Es gilt aber noch ein weiteres Problem zu identifizieren, und dies führt
mich wieder zurück zum Ort der islamischen theologischen Wissen￾
schaften in den hiesigen Wissenschaften. Eingangs hatte ich auf die
Frage verwiesen, wie sinnvolle Aussagen wissenschaftlich gerechtfer￾
tigt werden können. Ich hatte vermerkt, dass es sehr wohl legitim ist,
solche Aussagen auch dann als wissenschaftlich anzuerkennen, wenn
sie nicht allein aus der empirischen Beobachtung entstehen und sie in
einer sich aus dieser entwickelnden Verallgemeinerung allein induk￾
tive Rechtfertigungsgründe haben. Dies führt nun zur Frage, wie die
11 Hierzu Rohrer 2013: 263–283.
110 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
Beobachtung “des Islam” zu verstehen ist. Ist der Islam Objekt oder
Subjekt der Wissenschaft, oder ist er beides?
Die cartesianische Trennung von erkennendem Subjekt und
natürlichem Objekt war Ausgangspunkt eines modernen Wissen￾
schaftsverständnisses. Zwar war auch Descartes hier noch der aris￾
totelischen Tradition verhaftet, doch deutete sich bei ihm schon ein
Paradigmenwechsel an, insofern er – wie manch andere in seiner
Zeit – der Wissenschaft Gegenstandsbereiche zuordnete, denen das
erkennende Subjekt gegenübertrat. In der Erkenntnis werde die Welt
erzeugt, eine Welt, die nicht identisch ist mit der alltäglichen Erfah￾
rungswelt. Als ein Bereich menschlichen Daseins wurde im 17. Jahr￾
hundert das Religiöse identifiziert und von anderen Ausdeutungen
des Daseins getrennt. Das Religiöse wurde damit – vor allem seit Hob￾
bes – zu einem Sachverhalt, über den die Wissenschaft Erkenntnisse
erzielen wollte. Zwar wurden auch hier Modalitäten der Erkenntnis
angewandt, die eigentlich eher in den Bereich natürlicher Umwelten
gehören, wie die Frage nach der Kausalität und Funktionalität. Doch
im Kern ging es darum, dem Sinn menschlichen Tuns auf die Spur zu
kommen. Eben deshalb hatte Dilthey die Geisteswissenschaften als
verstehende Wissenschaften definiert. Die Trennung der Wissenschaft
von der Religion bedeutete, dass sich beide Wissensordnungen auto￾
nom begründeten und sich einer eigenen raison d’être vergewisserten.
Religion wird zur Anschauung, die weder der Moral noch der theore￾
tischen Philosophie verpflichtet sei.12 Die Trennung von Wissenschaft
und Religion ist fundamental; durch sie wird aber auch eine grundle￾
gende Differenz von Religion und Theologie definiert. Will nun jed￾
wede Theologie Wissenschaft sein, dann muss sie zwangsläufig auch
12 Vgl. hierzu Schleiermacher 1958: 28f.: “Sie begehrt nicht das Universum
seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie
begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen
es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder
Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie
das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es
andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in
kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.”
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 111
Urheberrechtlich geschütztes Material
die Religion, für die sie sprechen will, zum Objekt machen. Zugleich
aber werden aus dem Feld der Religion Erkenntnisvoraussetzungen
definiert, die diese Beobachtung steuern sollen. Dadurch macht sie
ihre Religion auch zum Subjekt im wörtlichen Sinne, also zu dem,
was der Erkenntnis unterliegt. Das gilt natürlich auch für die isla￾
mischen theologischen Studien. Auch sie forschen “über den Islam”
und machen ihn daher zum Gegenstand ihrer Erkenntnisse; gleichzei￾
tig aber begründen sie ihre Erkenntnisse aus den Sachverhalten der
islamischen Tradition, deren Sitz im Leben jedwede Gestaltung mus￾
limischen Daseins ist. Die islamischen theologischen Studien müs￾
sen sich so der Tatsache bewusst sein, dass sie den “Islam” sowohl
als Subjekt wie als Objekt ihrer Wissenschaften voraussetzen; diese
Differenzierung zu verwischen könnte die Gefahr in sich bergen, die
moderne Unterscheidung von Religion und Wissenschaft aufzuheben
und damit in alte scholastische Muster der Wissensordnung zurück￾
zufallen.
Nun stellt sich für die Begründung islamischer theologischer Stu￾
dien das Problem, dass ihr “Objekt”, mithin “der Islam”, wissenschaft￾
lich durch eine andere Disziplin bearbeitet wird, nämlich die Islam￾
wissenschaft, die gewissermassen das wissenschaftliche Subjekt im
Sinne von Descartes ist. Das ist für die christlichen Theologien nicht
anders, doch sie haben den Vorteil, dass sie das Recht des Erstgebo￾
renen genießen dürfen. Ihr Gegenüber ist nicht eine Einzelwissen￾
schaft, also eine Christentumswissenschaft, sondern die Gesamtheit
der Geistes- und Sozialwissenschaften, sofern sich diese dem Thema
Christentum widmen. Die christlichen Theologien haben ihr Primat
aber nie eingebüßt. Sie definieren daher auch nur selten systema￾
tisch, was sie von den Geistes- und Sozialwissenschaften unterschei￾
det. Sie integrieren auf breiter Front wissenschaftliche Erkenntnisse
aus außertheologischen Disziplinen, ohne dabei zu einer Rechtferti￾
gung gezwungen zu sein.13 Nicht selten versuchen Theologen dann
13 Es ist selbstverständlich, dass dies nicht ohne Konflikte ablief, man denke nur
an die kritische katholische Kantrezeption durch Georg Hermes (1775–1831),
112 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
auch zu zeigen, dass außertheologisch gewonnenes Wissen eigentlich
eine religiöse oder gar theologische Grundierung habe.14
Hingegen etablieren sich die islamischen theologischen Studien
gut 100 Jahre nach den ersten Institutionalisierungsversuchen einer
Islamwissenschaft an deutschen Universitäten. Ihre Ausgangslage ist
also umgekehrt zu der der christlichen Theologien. Das Feld der isla￾
mischen Theologie scheint schon bestellt zu sein: An 21 Universitä￾
ten wird – unbedacht jeweils spezifischer Bezeichnungen – das Fach
“Islamwissenschaft” unterrichtet. Sie stehen im Kontext einer beein￾
druckenden Wissensproduktion, die den Islam zum Gegenstand hat.
Einschlägige Bibliografien verzeichnen über 3000 Bücher und gut
10.000 fachwissenschaftliche Artikel, die in deutscher Sprache zum
Thema Islam im weitesten Sinne des Wortes verfasst wurden, davon
40 % allein in der Zeit seit dem Jahr 2000. Die islamischen theologi￾
schen Studien können die oftmals unbequemen, wenn auch in ihrer
Qualität sehr unterschiedlichen Erkenntnisse der Islamwissenschaft
nicht ignorieren; genauso wenig konnten die christlichen Theologien
im 19. und 20. Jahrhundert die Arbeiten von Ludwig Feuerbach,
Schopenhauer oder Nietzsche umgehen. Gerade die diskursive Inte￾
gration dieser unbequemen Denker hat den christlichen Theologien
gut getan und sie aus ihrer Saturiertheit befreit.
Die Islamwissenschaft kann sich heute mit einer fast 130jährigen
Geschichte rühmen. Gegen 1885 hatten sich fünf Orientalisten aus
fünf Ländern eher spontan darauf geeinigt, ihre Forschungen in Dif￾
ferenz zur etablierten orientalischen Philologie als Islamwissenschaft
zu bezeichnen: Christiaan Snouck Hurgronje (1857–1936), Ignaz
Goldziher (1850–1921), James Darmesteter (1849–1894), William
Robertson Smith (1846–1894) und Duncan Black MacDonald (1863–
1943). Doch weder gab es eine offizielle Einführung dieser neuen
an die Versuche von Joseph Maréchal (1878–1944), Kant und Thomas von
Aquin in Übereinstimmung zu bringen.
14 So schon Flügge 1796–98; in der Rechtfertigung des neukantianischen Kri

tizismus durch genealogischen Rückbezug auf die reformatorische Theologie
Martin Luthers: Herrmann 1966: 104–122; analog: Lewkowitz 1924: 97–107;
außerdem Düringer 1999.
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 113
Urheberrechtlich geschütztes Material
Wissenschaft, noch wurde die Namensgebung explizit begründet und
kommuniziert. Vielmehr stand der Begriff “Islamwissenschaft” für
das damals wachsende Bedürfnis, den Islam aus der Umklammerung
der orientalischen Philologien zu befreien und ihn zu einem eigen￾
ständigen Objekt der Wissenschaft zu machen, oder, wie Carl Hein￾
rich Becker 1910 sagen wollte, als “Problem” zu erkennen.
Snouck-Hurgronje, einer der vehementen Verfechter dieser
neuen Wissenschaft, begründete dies 1886 wie folgt:
“Angesichts der riesigen Fortschritte, welche unser Jahrhundert
für fast jede Abtheilung der orientalischen Wissenschaft aufzuwei￾
sen hat, ist es betrübend zu sehen, wie sehr das Islāmstudium in
Europa noch im Argen liegt. In Deutschland wird dasselbe entwe￾
der ganz vernachlässigt, oder als Mittel zum Verständnis musli￾
mischer Werke nur oberflächlich betrieben; in den Ländern, für
welche die Islam-Wissenschaft praktisch höhere Bedeutung hat, ist
es nicht besser. (…) Höchst verdienstvolle Orientalisten schreiben
z. B. Islāmstudien, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass die
Religion Muhammeds und das Lehrsystem des Islams zwei ver￾
schiedene, durch einen Entwicklungsgang von 3–4 Jahrhunder￾
ten von einander getrennte, Dinge sind, und wenn sie dies auch
zu wissen behaupten, so werfen sie doch bei der Behandlung
des Stoffes fast immer Geschichte und System zusammen: relativ
moderne Lehrsätze werden für die Biographie Muhammeds ver￾
werthet, indem der ursprüngliche, längst vergessene Sinn eines
Qorānverses von der Lehre des Islams Zeugniss ablegen muss. (…)
Als ich zuerst selbständig auf diesem Gebiete zu arbeiten anfing,
sah ich mich denn auch vergebens nach einem muršid um; alle
Wegweiser stellten sich bei eingehender Benützung als Irrlehrer
heraus, mit einziger Ausnahme von Dr. Goldzihers meisterhaften
Essais.” (Snouck Hurgronje 1886: 94f.)15
15 Hurgronje greift den Begriff dann nochmals in seinem Verriss von Hartwig
Derenbourg auf, vgl. Hurgronje 1886: 103–111, hier 105: “Statt dessen wird
114 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
Wie Snouck Hurgronje immer wieder klarstellte, ging es darum,
gerechtfertigtes Wissen über das “Wesen des Islam” bereit zu stel￾
len. Allerdings bot der Begriff eine Schwierigkeit: Als Kompositum
bezeichneten die Namen Islamwissenschaft, Islamstudien und sogar
auch Islamkunde eine Beziehung, die in zweierlei Hinsicht gelesen
werden konnte: entweder in dem Sinne, dass der Islam Objekt der
Wissenschaft sein solle, oder, in dem Sinne, dass es sich um Wissen￾
schaften “des Islam”, sprich der islamischen Tradition selbst, sprich
der Muslime handele und somit das Subjekt der Wissenschaft sei. In
diesem Sinne bezeichnete noch Ignaz Goldziher den muslimischen
Gelehrten aṭ-Ṭabarī “als eine der größten Gestalten der Islamwissen￾
schaft aller Zeiten” (Goldziher 1920: 86).
Es war also noch nicht begrifflich eindeutig geklärt, wessen
Wissenschaft der Islam sei: Ist er Objekt und damit Gegenstand der
Wissenschaft oder Subjekt und damit Produzent von Wissenschaft?
Auch die englische Bezeichnung der neuen Wissenschaften war
alles andere als eindeutig. Der Begriff Islamic studies, der erstmals
1901 gebraucht und dann sehr zögerlich aufgegriffen worden war,
bezeichnete ursprünglich nichts anderes als “auf den Islam bezogene
Forschungen”.16 Populär wurde der Begriff, als muslimische Gelehrte
in Indien den Anspruch erhoben, der Befassung mit dem Islam eine
eigenständige Institution an den staatlichen Universitäten zuzuwei￾
sen. In jenen Jahren erfolgte tatsächlich die Einrichtung von Departe￾
menten für islamische Studien an den Universitäten von Kalkutta und
Dhaka. Erstmals war ein Studienabschluss in Islamic studies möglich.
Allerdings dachten die Kolonialbehörden zunächst daran, die Islamic
studies als Geisteswissenschaft zu definieren und damit der damals
noch jungen Islamwissenschaft zur Seite zu stellen. Praktische Erwä￾
gungen aber ließen von diesem Vorhaben Abstand nehmen. So hieß
es von dem damals verantwortlichen britischen Universitätsinspektor
in Indien:
uns aber ein Mischmasch geboten von allen Varietäten des Unsinns, die sich
je auf dem Gebiete der Islāmwissenschaft breit gemacht haben.”
16 Z. B. in der Besprechung Williams’ 1902.
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 115
Urheberrechtlich geschütztes Material
“Die Einbeziehung der islamischen Studien als ein eigenständiges
Department an der Universität auf einer Ebene mit den Geistes￾
und den Naturwissenschaften verlangt eine Erklärung. Es ist rich￾
tig, dass die islamischen Studien aufgrund ihrer Breite und ihrer
Bedeutung eine eigenständige Betrachtung verdienen, vor allen
Dingen an einer Universität in einer Provinz mit einer großen
muslimischen Bevölkerung. Deshalb und obwohl die islamischen
Studien aus theoretischer Sicht einen Zweig der Geisteswissen￾
schaften darstellen, würde ich aus praktischen Erwägungen zuge￾
stehen, sie auf gleicher Stufe mit den Geisteswissenschaften zu
belassen.” (Calcutta University commission 1919: 13)
Die damals intensiv geführte Kontroverse erinnert in manchem an
die heutigen Diskussionen in Deutschland um die Rechtfertigung isla￾
mischer theologischer Studien. Im Ergebnis zeigte die damalige Dis￾
kussion in Indien, dass der Begriff Islamic studies vor allem von Wis￾
senschaftlern, die in einer islamischen Absicht forschten, in Geltung
gebracht wurde. Im Unterschied zu “Islamwissenschaft” und der seit
1912 belegten französischen Variante “études islamiques” akzentu￾
ierte Islamic studies so die subjektive Seite der auf den Islam bezoge￾
nen Wissenschaften. Einhelligkeit bestand allerdings nicht. In einer
englischen Besprechung von Goldzihers Vorlesungen über den Islam,
die der englische anglikanische Priester und Orientalist Alfred Guil￾
leaume 1926 publiziert hatte, wurde erstmals der Begriff “Islamwis￾
senschaft” explizit mit “Islamic studies” übersetzt (vgl. Royal Asiatic
Society of Great Britain and Ireland 1926: 353f.). Andererseits ver￾
öffentlichte im selben Jahr der indische Bibliothekar in Bannkipore,
Salahuddin Khuda Bukhsh, eine Schrift mit dem Titel “Islamic stu￾
dies”, in der er geltend machte, dass die islamischen Studien eigent￾
lich nur von muslimischen Gelehrten betrieben werden könnten (Sind
Sagar Academy 1926).
In den damaligen englischen Debatten ging es im Kern um die
Frage, wem die Hoheit über den Islam gebührte. In Deutschland
spielten solche Überlegungen keine Rolle. Hier war allenfalls umstrit-
116 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
ten, ob der Islam überhaupt ein eigenständiger Gegenstand der wis￾
senschaftlichen Erkenntnis sein könne. Nur zögerlich fand die Islam￾
wissenschaft ihren Platz in der akademischen Welt: Zwischen 1909
und 1913 entstanden die ersten Fachverbände mitsamt ihren wissen￾
schaftlichen Organen wie “Der Islam” (ab 1910) und “Die Welt des
Islams” (ab 1913).17 Als 1911 Georg Jacob (1862–1937) als Ordi￾
narius für Islamische Philologie an die Kieler Universität berufen
wurde, tauchte erstmals der Islam in der Bezeichnung eines Lehrge￾
biets auf. Allerdings handelte es sich damals um eine Verlegenheits￾
losung, da es darum ging, die drei sogenannten “Kultursprachen des
Islam”, also das Arabische, das Persische und das Türkische, in einem
Kanon abzubilden und um den Begriff “semitische Philologie” zu ver￾
meiden. Zwar konnten sich Dozenten und Extraordinarien mit die￾
sem Lehrgebiet zusätzlich schmücken, aber einen Lehrstuhl für Islam￾
wissenschaft sollte es erst nach dem 2. Weltkrieg geben. Selbst Carl
Heinrich Becker zögerte als preußischer Kultusminister 1929, der von
Eugen Mittwoch beantragten Einrichtung eines Lehrstuhls für Semi￾
tistik und Islamkunde an der Universität Berlin zuzustimmen, und
als Becker nach seinem Rücktritt auf diese Professur berufen wurde,
war der Zusatz “Islamkunde” schon wieder gestrichen worden. Unter
dem Regime des Nationalsozialismus erfuhr die “Islamwissenschaft”
eine bemerkenswerte Aufwertung. Bis 1937 wurde an zehn Univer￾
sitäten die Dr. phil.-Prüfung in Islamwissenschaft geschaffen, und in
München und Halle wurde die Islamwissenschaft in den Namen der
entsprechenden Lehrinstitutionen aufgenommen. Der Islam war hier
allerdings nur ein Ersatz für die Bezeichnung “semitisch”, die nach
und nach an den Universitäten ausgemerzt wurde. Letztlich ist es
Paul Tillich zu verdanken, dass an der Freien Universität nach 1948
dann doch eine Professur für Religionswissenschaft und Islamwissen￾
schaft eingerichtet wurde. Walther Braune, Assistent von Tillich, war
17 Vorgängig die von Alfred Le Chatelier (1855–1929) geleitete Zeitschrift der
französischen wissenschaftlichen Marokko-Mission Revue du monde musulman
(ab 1906). Le Chatelier war seit 1902 Inhaber des von ihm selbst geschaff￾
enen Lehrstuhls für “sociographie musulmane” am Collège de France.
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 117
Urheberrechtlich geschütztes Material
der erste islamwissenschaftliche Professor; mit der Berufung von Fritz
Steppat an die Freie Universität 1969 wurde dann die Islamwissen￾
schaft erstmals eigenständiges Lehrgebiet einer Professur, nachdem
sich seit den frühen 1960er Jahren Orientalisten erstmals im Fach
Islamwissenschaft hatten habilitieren können.
Kurzum, die Islamwissenschaft hat sich auf institutioneller Ebene
nur sehr langsam durchgesetzt. Der Grund hierfür war auch die
Frage, ob der Islam überhaupt mit dem Status eines wissenschaft￾
lichen Objekts privilegiert werden dürfe, und wenn ja, in welcher
Weise er als Objekt der Forschung betrachtet werden solle. Neu￾
kantianisch beeinflusste Orientalisten wie Carl-Heinrich Becker und
Hans Heinrich Schaeder dachten den Islam als Objekt in systemati￾
scher Hinsicht. Es ging ihnen um die Bestimmung des “Wesens des
Islam”. Die fast zeitgleich entstehende Religionswissenschaft folgte
einem ähnlichen Paradigma, indem um die Erkenntnis, was Religion
sei, gerungen wurde. Interessant ist hierbei zu beobachten, dass der
Islam nicht in die Religionswissenschaft integriert, sondern als eigen￾
ständiges “Wesen” von Religion differenziert wurde. Andere dachten
sich den Islam eher als die Gesamtheit deskriptiv erarbeiteten Wis￾
sens, die es in einer “Kunde” darzustellen gälte. Doch auch hier war
die Terminologie alles andere als einheitlich. Selbst Becker sprach
von Islamkunde und relativierte damit den Anspruch, den Islam zum
abstrakten Objekt einer Wissenschaft machen zu können. Und doch:
Durchgesetzt hat sich der Begriff “Islamwissenschaft” und damit der
sich mit diesem Begriff verbindende Anspruch, den Islam auf eine
Stufe mit Sprache, Geschichte, Musik, Kunst, Literatur, Religion oder
Philosophie stellen zu können.
Diese Objektivierung oder Verdinglichung des Islam hatte zur
Folge, dass in der wissenschaftlichen Wahrnehmung, aber auch all￾
gemein in der Öffentlichkeit der Islam als abstrakt gedachte Ordnung
Hegemonie über die Muslime beanspruchte. Der oft beschriebene und
analysierte Prozess der Objektivierung respektive Verdinglichung des
Islam hatte die Verdichtung seines Begriffs zur Folge. Die Semantik des
Begriffs “Islam” wurde durch immer neue intersubjektive Werturteile
118 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
aufgeladen, die bestimmten, was der Islam denn sei. Der Islam wurde
zu einem “dichten Begriff” (thick concept) im Sinne von Bernard Wil￾
liams: Williams meint damit Ausdrücke, die sowohl einen Sachver￾
halt bezeichnen wie die Bewertung dieses Sachverhalts einschließen.
Eine semantische Auftrennung des deskriptiven und normativen
beziehungsweise evaluativen Gehalts lässt sich in dichten Begriffen
wie “Mord”, “Mut”, “Grausamkeit” oder “Dank” nicht vollziehen,
ohne die konventionelle Bedeutung zu zerstören und den Begriff sinn￾
los werden zu lassen.18 Solche Begriffe erheben den Anspruch, etwas
beschreiben zu können, zugleich aber bewerten sie das Beschriebene
mit den Normen und Vorschriften, die diese Begriffe in der Moderne
definieren. Würde man die Vorschriften, die ihrer Semantik inne￾
wohnt, vom vermeintlichen deskriptiven Gehalt trennen, würden sie
sinnlos.
Der Islam ist in den vergangenen 130 Jahren zweifellos zu einem
solchen dichten Begriff geworden. Dies zeigt sich besonders daran,
dass der Name als Programm verstanden wird: So wird er gerne
übersetzt oder durch Synonyme erklärt. Dieser erklärende Aspekt
repräsentiert dann sehr genau den evaluativen Gehalt. So wird der
Islam gelesen als “Unterwerfung”, “Hingabe”, “Annahme”, “Über￾
gabe” “Friede” oder gar “totale Abhängigkeit von Gott” (Kaygisiz
2009: 138, zit. nach Raddatz 2006: 165). beziehungsweise antithe￾
tisch “Erlangung von Frieden durch Unterwerfung unter Allah”19. Der
ethisch-normative Gehalt wird dabei nicht selten aus einer histori￾
schen Schau hergeleitet. Nehmen wir nur als Beispiel die auch von
prominenten Wissenschaftlern vertretene These, dass der Islam von
Anfang an eine politische Religion gewesen sei. Die bewertende Aus￾
sage tritt hier deutlich hervor, denn heute würde kaum jemand noch
den Begriff “politische Religion” positiv sehen. Begründet wird diese
wertende Aussage mit dem Verweis auf die islamische Frühzeit, die
als Beleg dafür gilt, dass “der Islam” immer schon politisch gewesen
18 Vergleiche hierzu Williams 2006: 129, 140, 143ff., 163, 192, 200, 216–220.
19 http://www.islamisches-zentrum-muenchen.de/html/islam-wasistislam.
html (letzter Zugriff: 29.11.2014).
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 119
Urheberrechtlich geschütztes Material
sei. Diese Deutung hat die Semantik des Begriffs “Islam” so geprägt,
dass er heute – zumindest in der breiteren Öffentlichkeit – nur noch
durch den Verweis auf das Politische sinnvoll erscheint. Dabei han￾
delt es sich nicht um einfache Konnotationen, sondern um Bedeutun￾
gen, die den Begriff konstituieren. Würden wir heute von der bewer￾
tenden Pointe absehen, die dem Begriff Islam innewohnt, wären wir
außer Stande zu erfassen, was den Islam als Klasse von Einzelelemen￾
ten überhaupt zusammenhält.20
In der Objektivierung des Islam, also in seiner Festschreibung
als “dichter Begriff”, verbirgt sich zugleich die Auffassung von einer
essentiellen islamischen Subjektivität, insofern als der Islam als Sub￾
jekt (gemeint als Souverän) auftrete, den Muslim definiere und deter￾
miniere sowie dessen Handeln allenfalls paradigmatisch werden lässt.
Es sei also der Islam, der die Muslime generiere. Diese sekundäre Sub￾
jektivierung erlaubt dann Sätze wie der Islam macht, tut, bestimmt,
zeigt etc. Er wird tatsächlich zum Subjekt einer Proposition. Solche
“der Islam ist…”-Sätze haben sich zwischen 1975 und heute nahezu
verfünffacht.
Die Objektivierung hat den Status des Begriffs “Islam” fundamen￾
tal verändert. Aus einem Namen wurde eine abgegrenzte, beschreib￾
bare ontologische Einheit, der bewertbare Vorschriften innewohnen,
die wiederum “den Muslim” oder “die Muslimin” bestimmen. Beob￾
achtet wird dann auch deren Verhalten gegenüber diesen vermeintli￾
chen Vorschriften: Stimmen sie ihnen zu oder lehnen sie sie ab?
IV
Nun zeichnet sich schon seit einigen Jahren in der Islamwissen￾
schaft die Tendenz ab, den Status des bislang ontologisch bestimm￾
ten Begriffs “Islam” wieder auf den eines Namens zu reduzieren. Als
Name bezeichnet er keinen bestimmten Sachverhalt, sondern jed￾
20 Hier unter Nutzung einer Formulierung von Charles Taylor (1994: 107).
120 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
wede Bedeutung, die durch den Gebrauch des islamischen Traditions￾
gefüges entstand oder entsteht. Es geht also nun um die Beobachtung,
welche Bedeutung Menschen durch den Gebrauch des islamischen
Traditionsgefüges schufen und schaffen und welchen Sinn sie hier￾
durch welchem Sachverhalt geben. Der Sache nach bedeutet dies
nichts weniger als anzuerkennen, dass es die Muslime sind, die den
Islam ausbilden und dass es nicht der Islam ist, der die Muslime
gestalte.
Einen solchen Gestaltungsprozess erleben wir aktuell auch und
gerade in der Etablierung der islamischen theologischen Studien.
Wissenschaftler in diesen Disziplinen machen geltend, dass sie Sub￾
jekt einer auf den Islam bezogenen Wissenschaft sind. Doch kann der
Islam Subjekt einer Wissenschaft sein? Und was hieße das?
Vier Deutungen, wer Subjekt sein könnte, sind möglich:
1. Es sind Wissenschaftler, die geltend machen, dass Erkenntnisse
über die Welt durch die Nutzung islamischer Wissensordnungen
gewonnen werden können; Subjekt wären dann die Akademiker.
2. Es ist die islamische Wissensordnung selbst, die die wissenschaft￾
lichen Erkenntnisse generieren und steuern könnte; Subjekt wäre
dann das islamische Traditionsgefüge.
3. Subjekt sind muslimische Umwelten (im Sinne von Niklas Luh￾
mann, also nicht zum Kommunikationssystem der Wissenschaft
gehörende Gemeinschaften), die sich der Wissenschaft für eine
Selbstvergewisserung und Selbstauslegung bedienen; Subjekt
wären dann die muslimischen Gemeinschaften, die sich ihrerseits
der Wissenschaft als ihre Umwelt vergewissern (können).
4. Es handele sich um die Artikulation eines abstrakten muslimi￾
schen Subjekts, Ergebnis einer Rationalisierung der Immigration,
die nach 2001 an Bedeutung gewann und die, wie Levent Tezcan
meint, “unter Einbeziehung von islamischen Organisationen und
Einzelpersonen auf die Konstruktion eines gesellschaftsfähigen,
berechenbaren muslimischen Subjekts abzielt.” (Tezcan 2012:
Titelbeschreibung des Verlags)
Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft 121
Urheberrechtlich geschütztes Material
Den islamischen theologischen Studien unterliegen, so zeigt sich, alle
vier Gestaltungen der Subjektivität. Subjekt meint hier aber nur noch
denjenigen, in dessen Absicht islamische theologische Forschungen
vollzogen werden. Da sie – wie allen auf den Menschen bezogenen
Wissenschaften – reflexiv sind, stellen sie zugleich eine Selbstausle￾
gung und Selbstthematisierung dar. Doch so, wie erkannt wurde, dass
der Islam als “dichter Begriff” untauglich ist, Gegenstand einer wis￾
senschaftlichen Beobachtung zu sein, ist festzustellen, dass auch der
Islam als “Subjekt der Wissenschaften” nicht näher bestimmt wer￾
den kann. Denn das Selbst, das die islamischen theologischen Studien
auslegen, ist eben kein “islamisches Selbst”, sondern nur selbstwahr￾
genommenes soziales Dasein. Da es kein islamisches soziales Dasein
gibt und da der Islam stets nur als Name für Deutungen eines sozia￾
les Daseins sinnvoll beschrieben werden kann, können sich die isla￾
mischen theologischen Studien nicht darin erschöpfen, den Islam in
Stellung zu bringen. Andernfalls droht die Gefahr, einen homo islami￾
cus neu zu erfinden.
Kurzum, die Differenzierung des Islam als Objekt beziehungs￾
weise Subjekt der Wissenschaft macht heute kaum noch einen Sinn.
Als Proprium der islamischen theologischen Studien kann so allein
die Absicht bestimmt werden, mit der wissenschaftliche Forschung
und Lehre betrieben wird. Aus eingangs genannten Gründen ist eine
solche Absicht zweifellos gerechtfertigt. Dies bedeutet aber auch,
dass die islamischen theologischen Studien aus grundsätzlichen und
nicht nur gesellschaftspolitischen Gründen einen legitimen Platz im
Kanon der Wissenschaften an säkularen Universitäten haben.
Die Etablierung der islamischen theologischen Studien an deut￾
schen Universitäten ist ein aufregendes, ja mit Ausnahme der indi￾
schen Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein beispielloses
Unterfangen. Soll es gelingen, dann müssen sich die islamischen
theologischen Studien einen Raum schaffen, in dem sie ihren Gel￾
tungsanspruch als Wissenschaft an einer säkularen Universität kri￾
tisch reflektieren, dies nicht isoliert sondern im ständigen Gespräch
mit anderen Wissenschaften. Ein solcher offener Raum böte auch die
122 Reinhard Schulze
Urheberrechtlich geschütztes Material
Möglichkeit, die Vielzahl noch ungeklärter Probleme anzugehen, die
die Forschungspraxis betreffen. Ich nenne nur:
‒ die Bestimmung von anerkannten und gemeinsam vertretenen
Forschungsstandards
‒ die Erarbeitung von Evaluationskriterien im Rahmen der For￾
schungsförderung
‒ die Konsolidierung der korporationsrechtlichen Stellung in den
Universitäten
‒ die Definition von Standards im Hinblick auf die Einheit von For￾
schung und Lehre
‒ die Erarbeitung eines Konsenses in Hinsicht auf die notwendige
interne disziplinäre Differenzierung
‒ die Erarbeitung von Curricula der islamischen theologischen Stu￾
dien
Diese Punkte zu klären, scheint mir die Voraussetzung dafür zu sein,
die Nachhaltigkeit der islamischen theologischen Studien an den Uni￾
versitäten sicherzustellen.
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http://de.wikipedia.org/wiki/Deutungshoheit
(Fassung 25. Dezember 2013, letzter Zugriff: 29.11.2014).

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In Übersetzung / In Translation
Die Lektüre des Korans aus
christlich-theologischer Sicht und ihr Einfluss auf
das Entstehen der islamischen Theologie
Naṣr Ḥāmid Abū Zaid*
Einführung: Die Exegese – Polemik oder Dialog?
Diese Studie will den Einfluss der christlichen Koranlektüre auf die
Entstehung der Kalāmwissenschaft, das heißt der islamischen Theolo￾
gie, aufzeigen, indem sie die “christliche Polemik (ǧadal)1 gegen den
Islam” im 8. Jahrhundert n. Chr. analysiert. Dabei soll gezeigt wer￾
den, dass eine Polemik, in einem kulturellen Kontext, eine Form des
produktiven und schöpferischen Dialogs darstellen kann, besonders
wenn jene, gegen die sie sich wendet – in unserem Fall die Muslime
– die Polemik der Gegner als echte Herausforderung begreifen, deren
Ernsthaftigkeit für sie nicht zu leugnen ist. Als Frage stellt sich hierzu:
Kann man die religiöse Polemik als Dialog betrachten und unter dem
Begriff des “interkulturellen Dialogs” fassen, wie man ihn heute ver￾
wendet? Die Berechtigung dieser Frage zeigt sich darin, dass die Pole￾
mik an sich nicht, wie der Dialog, Verständigung erreichen will, son-
* Der Artikel erschien zuerst auf Arabisch in: Islamochristiana, Nr. 33 / 2007,
S. 1–30. Der Autor war Professor für Islamwissenschaft an der Universität
Leiden sowie Inhaber des Ibn-Rushd-Lehrstuhls für Humanismus und Islam
an der University for Humanistics in Utrecht. Dies ist einer der letzten von
ihm erschienenen Texte vor seinem Tod im Juli 2010. Übersetzt wurde er, mit
leichten Anpassungen, von Thomas Hildebrandt.
1 Der Begriff wird hier, je nach Gebrauch, als “Disput” oder “Polemik” über

setzt. Der Autor übersetzt ihn zu Beginn seines Textes selbst mit polemics
(Anmerkung des Übersetzers).
128 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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dern Widerlegung, Ablehnung und Vereinnahmung anstrebt, indem
sie Unterschiede und Abweichungen betont und Trennlinien aufzeigt
zwischen “Wahrheit” und “Unwahrheit”. Diese Studie geht jedoch
von der historischen Realität aus, dass die christlich-islamische Pole￾
mik im 8. Jahrhundert – unser Gegenstand der Analyse – produktiv
war, obwohl den streitenden Parteien so etwas als Ziel nicht in den
Sinn kam. Der christliche Polemiker wollte keinen schöpferischen
Austausch bewirken, sondern die Gefahr bekämpfen, die der Islam
aus seiner Sicht für die christlichen Dogmen darstellte. Getrieben von
dem Wunsch, das christliche Dogma und seine Anhänger vor dem
Irrtum des neuen Glaubens zu schützen – besonders als dessen poli￾
tischer Einfluss sich innerhalb des christlichen Reiches ausgebreitet
hatte – blieb ihm nichts anderes übrig, als den Islam als eine der
christlichen Häresien wie den Arianismus2 und den Nestorianismus3
2 Abgeleitet von Arius (256–336), einem Priester der Kirche von Alexandria,
der mit deren Bischof über die Natur des Sohnes differierte. “Ausgangspunkt
der Ideen von Arius war, dass Gott eins ist und ungeschaffen und alles andere
geschaffen. So konnte das ‘Wort’ Gottes nur geschaffen sein. Arius unter￾
schied nicht zwischen Erschaffung (ḫalq) und Hervorbringung (tawallud) und
meinte, dass das ‘Wort’ zu einer gewissen Zeit nicht vorhanden und Gott
zu dieser Zeit nicht Vater war. Deshalb gehöre das ‘Wort’ nicht zum Wesen
des Vaters, sondern sei vielmehr geschaffen und zähle nicht zum Bereich der
Göttlichkeit. Es werde von Gott gemäß seiner besonderen Privilegien variabel
und flexibel eingesetzt. Trotzdem lehnte Arius die ‘Trinität’ nicht ab, sondern
ging von ihr aus. Er stellte sie sich aber so vor, dass Gott das ‘Wort’ als ein
vollständiges Wesen schuf, worauf das Wort bzw. der Sohn seinerseits den
Heiligen Geist als ein anderes vollständiges Wesen schuf. Es gibt hier also
eine Trinität von ‘Personen’, die sich von ihrer Natur und ihrem Wesen her
unterscheiden, aber durch Schöpfungsbeziehungen miteinander verbunden
sind.” (aš-Šarafī 1986: 86)
3 Abgeleitet von Nestorius (st. ca. 450). Er gehörte zur Theologenschule von
Antiochia, die von einer vollständig menschlichen Natur Jesu ausging und
mit Blick auf ihn zwischen einem Teil, der Gottessohn, und einem Teil, der
Marias Sohn war, unterschied. Angeführt wurde diese Schule von Diodoros
von Tarsos (st. vor 394). Bei der Verteidigung dieser Theorie folgte ihm später
sein Schüler Theodor von Mopsuestia (st. 428), der der Lehrer von Nestorius
war. Theodor vertrat unter anderem die Ansicht, dass Gottes Natur als “Wort”
umfassend ist, so wie auch die menschliche Natur des Messias umfassend ist.
Die Vereinigung zwischen diesen beiden Naturen ist die “Konjunktion” bzw.
die “Inhabitation” des göttlichen Wortes im Menschen Jesus. Daraus ergeben
sich die Leugnung der “Überschneidung der Namen und Attribute” (Commu-
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 129
Urheberrechtlich geschütztes Material
darzustellen. Natürlich stützte er diese Charakterisierungen dabei auf
Belege, die den Gründungstexten des Islams – vor allem dem Koran –
entnommen waren, gelesen und interpretiert aus seiner christlichen
Sicht. Der muslimische Theologe dagegen musste diese Behauptun￾
gen zurückweisen, indem er sie widerlegte und seine Lektüre und
Interpretation nicht nur der Gründungstexte des Islams, sondern auch
jener des Christentums anbot.
Es ist das Ziel dieser Studie, die interaktive Natur dieser frühen
Polemik aufzuzeigen, denn das erlaubt uns, diese Polemik als eine
Form des Dialogs zu begreifen, da sie unabhängig von den negativen
Intentionen der Beteiligten positive Resultate bewirkte. Diese histori￾
sche Realität rechtfertigt die der Studie zugrunde liegende Annahme,
dass die Polemik eine Form des Dialogs und des Austauschs zwischen
zwei Seiten darstellt, unabhängig von den auf der oberflächlichen
Diskursebene vorliegenden Mechanismen der Ablehnung und Zurück￾
weisung. Worauf es hier ankommt, sind also nicht die Formen des
Dialogs, sondern seine fruchtbaren Resultate.
Ich will in dieser Einleitung weder auf die Probleme des Begriffs
des “interkulturellen Dialogs” eingehen, wie er heute verwendet
wird, noch manche der Hürden benennen, die diesen Dialog mitun￾
ter zu einem “Dialog zwischen Taubstummen” machen. Es möge der
Hinweis genügen, dass der Kontext, aus dem der Begriff des “Dia￾
logs zwischen den Kulturen bzw. den Zivilisationen” stammt, eben￾
falls kontrovers ist. Denn die Einladung zum Dialog ist eine Reaktion
der islamischen Welt – vor allem Irans unter Muḥammad Ḫātamī –,
um Samuel Huntingtons berühmter Theorie vom “Zusammenstoß
der Zivilisationen” nach dem Fall der Sowjetunion zu trotzen. Wir
nicatio idiomatum) im Messias zwischen dem Wort und Gottessohn und dem
Menschen sowie die Annahme, dass derjenige, der geboren wurde und starb,
nicht der Gottessohn war, sondern der Mensch, der Sohn Davids. Mit anderen
Worten: Der Mensch Jesus war nicht wirklich Gottessohn, sondern erhielt
diesen Beinamen durch reine “Gnade”. Nestorius, der im Jahre 428 Bischof
von Konstantinopel wurde, ging so weit, auch den Beinamen “Gottesgebäre￾
rin” (Theotókos) für Maria abzulehnen, der auf die Verehrung der Jungfrau
hinweist und ab dem späten 3. Jahrhundert in breiten Kreisen des Volkes
verbreitet war (vgl. aš-Šarafī 1986: 92f.).
130 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
Urheberrechtlich geschütztes Material
müssen diese Theorie und Francis Fukuyamas Theorie vom “Ende der
Geschichte” miteinander in Beziehung setzen und sie als Theorien
betrachten, die auf semantischer und semiotischer Ebene miteinan￾
der verbunden sind, da die erste der beiden auf logischer, philoso￾
phischer und ideologischer Ebene zur zweiten führt. Wichtiger als
dieser Zusammenhang, den viele Autoren in zahllosen Studien behan￾
delt haben, ist aber das religiös-theologische Verhältnis. So ist die
Idee vom Ende der Geschichte ein moderner Ausdruck der religiösen
Idee vom Ende der Welt und von der Ankunft des Jüngsten Tages, an
dem Gerechtigkeit und Frieden einkehren, indem sich die absolute
Wahrheit (also Gott) endgültig zeigt und durch ihren allumfassen￾
den Willen herrscht, nachdem die Herrschaft des Menschen zu Ende
gegangen ist. Die herrschende absolute Wahrheit sind in der Theorie
vom Ende der Geschichte die Kultur und der Lebensstil der USA in
all ihren ökonomischen, politischen, militärischen, geistigen und kul￾
turellen Ausprägungen. Und so wie das Ende der Welt in den Religi￾
onen immer nur dadurch eintritt, dass die Unmoral – der Antichrist
besonders im islamisch-theologischen Denken – hervortritt und an die
Macht kommt, und durch sämtliche Kriege, Seuchen und Hungers￾
nöte, die das bewirkt und die das Erscheinen eines “Erlösers” erfor￾
dern, kommt es zu einem kompletten Ende der Geschichte nur durch
einen Kampf gegen jene Zivilisationen, die die abschließenden Werte
des ewigen Lebens bedrohen, wie sie in der Zivilisation von “Freiheit,
Gleichheit und Menschenrechten” repräsentiert sind und wie sie sich
in “Demokratie, Marktwirtschaft und Globalisierung” zeigen.
In diesem Zusammenhang erscheint die schreckliche Zerstörung
der Zwillingstürme von New York am 11. September 2001 wie eine
deutliche Verkörperung dieses Streits. Und der Krieg, den die US￾
Regierung gegen den Terrorismus “überall auf der Welt” erklärt hat,
erscheint wie ein Krieg gegen die Zivilisation bzw. die Kultur, die
diesen Terrorismus hervorgebracht hat und noch weiter hervorbringt.
Indem sie die Mechanismen bei der Lektüre des “Heiligen” des
jeweils Anderen analysiert, versucht diese Studie in aller Beschei￾
denheit zu zeigen, dass der Dialog der Zivilisationen bzw. Kulturen
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 131
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nicht von unseren bewussten Zielen und Absichten abhängt und dass
er kein Kleid ist, das wir uns heute nur überstülpen müssen, weil
wir es brauchen, um uns davor zu bewahren, uns gegenseitig zu zer￾
stören. Er ist vielmehr eine ständige und kontinuierliche Angelegen￾
heit – unabhängig davon, ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht.
Wir Menschen betreiben Dialog seit Anbeginn der Zeit. Zum Teil ist
dieser Dialog gewalttätig und blutig, zum Teil ist er gewalttätig und
nicht-blutig, und selten ist er zivilisiert. In jedem Fall aber interagie￾
ren wir miteinander und beeinflussen uns gegenseitig, ob nun positiv
oder negativ. All das Gerede über Zivilisationen bzw. Kulturen, die
komplett voneinander getrennt und unabhängig sind, wird somit zu
einer Verkürzung; und das Gerede über den Dialog, so als wäre er
eine abwesende Notwendigkeit, wird somit zu einer Verfestigung von
Trennung und Fremdheit.
Der islamisch-christliche Dialog – oder sagen wir ruhig Polemik
anstelle von Dialog – durch die interpretierende Lektüre des Heiligen
des Anderen bzw. der Anderen begann historisch mit dem Erscheinen
des Islams ab ca. 610 n. Chr. auf der Arabischen Halbinsel. Jede Reli￾
gion ist ein soziokulturelles Phänomen, da sie nicht aus dem Nichts
heraus entsteht. Der Raum der Arabischen Halbinsel, in dem der
Islam entstand, war ein Raum voller Religionen, was der Koran uns
bestätigt. Bekannte Religionen dort waren das Judentum, das Chris￾
tentum, der Mazdaismus, das Sabiertum4 sowie das Heidentum, das
sich in der Verehrung der Vorväter, der Sterne und Planeten bzw.
mancher Tiere äußerte, die den Stämmen als heilige Symbole galten.5
4 Siehe Koran 22:17: “Siehe, diejenigen, die glauben, die Juden sind, die Sabier,
die Christen, die Zoroastrier und die beigesellen – siehe, Gott entscheidet
zwischen ihnen am Tag der Auferstehung. Siehe, Gott ist Zeuge über alles.”
Siehe auch 2:62, und 5:69. – Anmerkung des Übersetzers: Die Übersetzung
von Koranstellen wurde mit geringen Anpassungen übernommen aus Bobzin
2010.
5 Siehe 53:19–20, wo die Namen von al-Lāt, al-ʿUzza und Manāt erwähnt
werden, sowie 71:23, wo die Namen von Wadd, Suwāʿ, Yaġūṯ, Yaʿūq und
Nasr vorkommen. Muḥammad Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī sagt in seinem berühmten
Korankommentar Ǧāmiʿ al-bayān fī tafsīr āy al-Qurʾān (1407/1987, XXVII: 34),
die Polytheisten benannten “ihre Götzen nach den hoch gepriesenen Gottes-
132 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
Urheberrechtlich geschütztes Material
In diesem religiösen Raum war es normal, dass der Koran sich
nicht in Auseinandersetzung und Streit mit diesen Religionen selbst
begab, sondern mit ihren Anhängern. Weil der Koran seine Botschaft
als kontinuierliche Fortführung der wahren göttlichen Botschaft seit
Anbeginn der Schöpfung darstellte – das heißt der Botschaft, die
die Propheten von Noah über Abraham und Moses bis hin zu Jesus
gebracht hatten – war es ebenfalls normal, dass die Anhänger der
existierenden Religionen in ihrer Betrachtung des Islams diesen auf
die “Korruption” und die “Verfälschung” zurückführten, die ihre
Dogmen in ihrer Bedeutung befallen hatten, was zum einen auf den
Fortgang der Zeit und zum anderen auf die Kontrolle der religiösen
Spezialisten über ihre Geister zurückging. Die Annahme von der Kor￾
ruption der Bedeutung impliziert die Idee, dass die Art und Weise,
wie die Anhänger der anderen Religionen ihre Heiligen Texte lesen,
falsch ist und die “neue Religion”, repräsentiert in ihrem Heiligen
Buch, die richtige Lektüre präsentiert.
Da es uns hier nur um die christlich-islamische Polemik geht,
unterteilt sich diese Studie in drei Teile: Im ersten Teil konzentriert
sich die Analyse auf die Praktiken der Intertextualität in der Struk￾
tur des Edlen Korans in seiner Polemik gegen die Christen (naṣāra),
und zwar mit allem, was diese Intertextualität an Inklusion, Deu￾
tung, Ablehnung, Annahme usw. enthält. Im zweiten Teil werden
die Autoren Johannes Damascenus (675–749) und Theodor Abū
Qurra (750–825) vorgestellt. Im dritten Teil richtet sich die Analyse
namen; so sagten sie für Allāh al-Lāt und für al-ʿAzīz al-ʿUzza und behaupte￾
ten, dass sie Töchter Gottes seien.” Und er sagt über die anderen Namen, dass
sie ursprünglich Personennamen waren “für rechtschaffene Leute unter den
Menschen, die Anhänger hatten, die ihnen nacheiferten. Und als sie starben,
da sagten ihre Anhänger, die ihnen nacheiferten: ‘Wenn wir uns ein Bild von
ihnen machen, dann wird uns das dazu motivieren, sie anzubeten, wenn wir
sie erinnern’, also machten sie sich Bilder von ihnen. Und als sie starben und
andere kamen, schlich sich Iblīs bei ihnen ein und sagte: ‘Sie dienten ihnen,
und durch sie ließen sie es regnen, also dient ihnen.’” (XXIX: 62) Aṭ-Ṭabarī
zeigt durch viele von ihm angeführte Überlieferungen, dass sich die Anbetung
dieser Personen unter den arabischen Stämmen seit der Zeit des Propheten
Noah fortsetzte und ausbreitete.
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 133
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auf die Schriften von Johannes Damascenus aus dem ersten Drittel
des 8. Jahrhunderts n. Chr. über den Islam als “christliche Häresie”,
wobei der Einfluss dieser Herausforderung auf das Entstehen der
Themen der Kalāmwissenschaft aufgezeigt werden soll. Hier werden
die Schriften von Johannes Damascenus behandelt, sei das mit Blick
auf das den Häresien gewidmete Kapitel seines Buches Die Quelle der
Erkenntnis, verfasst auf Griechisch und ins Englische übersetzt, oder
auf die aus Gesprächen mit ihm hervorgegangenen Aufzeichnungen
über ihn von Theodor Abū Qurra.6 Sie zählen – nach dem Koran und
einigen Prophetenhadithen – zu den ältesten Texten, die uns Einblick
geben in die Entwicklung von Dialog und Polemik.
Bemerkenswert ist, dass diese Texte mindestens drei Fragen auf￾
werfen, die zu den zentralen Fragen der Kalāmwissenschaft wurden,
nachdem diese als eigene Wissenschaft zur Reife gekommen war und
sich in ihr Schulen herausgebildet hatten. Die erste Frage ist die Frage
vom “Gotteswort Jesus”, das dem Koran zufolge geschaffen ist, was
aus christlicher Sicht als Häresie gilt. Vielleicht war die Rede von
der Erschaffenheit des Korans ursprünglich eine Antwort auf diese
Herausforderung und ein Versuch, einen Unterschied zwischen dem
islamischen Dogma und den christlichen Dogmen zu machen. Die
zweite Frage ist die Frage der göttlichen Attribute, denn die Idee des
geschaffenen Wortes setzt die Existenz des Wortes – und dem Koran
zufolge auch des Geistes – außerhalb des Herrn voraus. Die dritte
Frage ist die der göttlichen Allmacht und der menschlichen Wahl￾
freiheit. Es ist bemerkenswert, dass die erste und dritte Frage zu den
frühesten Fragen in der Entstehung der Kalāmwissenschaft zählen.
6 Ich stütze mich hier auf die englische Übersetzung der Texte von Johannes
Damascenus und Theodor Abū Qurra von Daniel J. Sahas, in drei Anhängen
veröffentlicht in seinem Buch: John of Damascus on Islam. The “Heresy of the
Ishmaelites” (1972: 132–159). Der erste Anhang (S. 132–141) enthält das Kap.
100 bzw. 101, je nach Handschrift, vom 2. Teil des Buches “Die Quelle der
Erkenntnis” über die “Häresien”. Der zweite Anhang (S. 142–155) enthält
einen von Theodor herausgegebenen Text von Johannes unter dem Titel “Dis￾
putatio Saraceni et Christiani”. Der dritte Anhang (S. 156–159) enthält eine
Fortsetzung dieses Disputs zwischen dem Christen und dem Muslim.
134 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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Am Ende des dritten Teils wird die Natur der Diskussion auf￾
gezeigt, die sich in den Kreisen der frühen Kalāmwissenschaftler im
8. Jahrhundert ausgehend von dieser Herausforderung entwickelte,
besonders innerhalb der qadarīya, der ǧahmīya und der ġailānīya. Am
Schluss wird dann darüber entschieden, ob diese Herausforderung
und die Reaktion darauf eine Form des produktiven Dialogs darstell￾
ten oder ob sie eine scharfe Auseinandersetzung waren, die zu Tren￾
nung und Fremdheit führte.
1. Die Polemik des Korans mit den Christen
Vielleicht zeigen die Suren 105 (Der Elefant) und 85 (Die Sternbilder)
indirekt die Natur der komplexen Beziehung, die später auf direkte
Weise zutage trat. In Sure 85 sieht man klar die historische Sympa￾
thie der Muslime für die Christen aus Naǧrān, die vom letzten Herr￾
scher von Ḥimyar im Jemen, dem zum Judentum konvertierten Ḏū
Nuwās, rund 50 Jahre vor der Geburt des Propheten Muhammad ver￾
trieben worden waren. Sure 105 spielt darauf an, wie der äthiopische
König Abraha al-Ašram, der den Juden Ḏū Nuwās besiegt und die
Herrschaft des Byzantinischen Reiches über den Jemen wiederher￾
gestellt hatte, im Jahr von Muhammads Geburt, also etwa 570, ver￾
suchte, Mekka zu erobern und die Kaaba zu zerstören. Das Ereignis
zeigt die Realität des politischen Konflikts zwischen dem christlich￾
byzantinischen Reich und dem Perserreich in der Herrschaft über den
Ḥiǧāz zur Kontrolle der Haupthandelsroute. Das Verhältnis von Islam
und Christentum kann man somit in zwei Aspekten zusammenfassen:
religiöse Sympathie auf der einen Seite und politischer Streit auf der
anderen.
Der erste Aspekt zeigt sich deutlich darin, dass der Koran Wert
darauf legt, die Details der Geschichte von Maria, der Mutter des
Messias, zu erzählen, vom Anfang ihrer religiösen Bildung unter der
Vormundschaft des Propheten Zacharias über den Moment der “hei￾
ligen” Empfängnis durch das Erscheinen des Engels des Herrn ihr
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 135
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gegenüber und bis hin zu jener Situation, die Marias Volk zu skepti￾
schen Nachfragen veranlasste, denen das Jesuskind mit einer Antwort
entgegentrat:
“Er sprach: ‘Ich bin der Knecht Gottes! Er gab mir das Buch und
machte mich zum Propheten. Er verlieh mir Segen, wo immer
ich auch war, und trug mir das Gebet und die Armensteuer auf,
solange ich am Leben bin. Und Ehrerbietung gegen meine Mutter!
Er machte mich zu keinem elenden Gewaltmensch! Und Friede
über mir am Tag, da ich geboren wurde, am Tag, an dem ich ster￾
ben werde, und an dem Tag, da ich zum Leben auferweckt werde!’
Das ist Jesus, Marias Sohn, als Wort der Wahrheit, über das sie
uneins sind. Es steht Gott nicht an, einen Sohn anzunehmen – das
sei ferne! Beschließt er eine Sache, so spricht er nur zu ihr: ‘Sei!’
Und dann ist sie. Siehe, Gott ist mein Herr und euer Herr, so dienet
ihm! Das ist ein gerader Weg. Die Gruppen aber waren unter sich
zerstritten. Wehe denen, die nicht an den Anbruch eines gewalti￾
gen Tages glauben!” (19:30–37)
Der Koran legt hier eindeutig fest, dass Jesus ein Knecht Gottes ist und
ein Prophet, dem das Buch gegeben wurde, nicht aber Gottes Sohn.
Dabei verweist der Koran auf die Differenzen zwischen den “Grup￾
pen” über die Natur des Messias, was die Existenz unterschiedlicher
christlicher Gruppierungen auf der Arabischen Halbinsel beweist. Wir
können annehmen, dass der Koran eine bestimmte Sorte von Chris￾
tentum ablehnte, und zwar das Christentum von Byzanz, das der
Westkirche, die der Theologie der Dreifaltigkeit ihre endgültige Form
gegeben hatte. Und man kann wohl auch sagen, dass es aus korani￾
scher Sicht ein akzeptables Christentum gab, nämlich vermutlich das
Christentum jener Juden, die Jesus als den Messias anerkannten, den
die Tora angekündigt hatte.
Als jedoch die Perser ca. 615/616 die Byzantiner besiegten, sym￾
pathisierte der Koran mit den Byzantinern gegen die Perser, weil die
Polytheisten von Mekka damals den persischen Sieg über Byzanz
136 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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bejubelten. Dass die Quraiš die byzantinische Niederlage feierten,
zeigt, dass sie spürten, welch tiefe emotionale Verbindung zwischen
Islam und Christentum bestand. In Sure 30:1–6, heißt es:
“Alif Lām Mīm. Besiegt sind die Byzantiner im nächstgelegenen
Land. Doch siegen werden sie nach ihrer Niederlage in ein paar
Jahren. Bei Gott liegt die Entscheidung – vorher und nachher.
Freuen werden sich die Gläubigen an diesem Tag über Gottes
Hilfe. Er hilft dem, dem er helfen will. Denn er ist der Mächtige,
der Barmherzige. Die Verheißung Gottes! Gott bricht seine Verhei￾
ßung nicht. Doch die meisten Menschen wissen nicht.”
Das Verhältnis zwischen Islam und Christentum veränderte sich in
Medina nach der Hiǧra durch die Polemik der Juden gegen den Islam
als ein Faktor, der den Disput beeinflusste. In Sure 3 (Das Haus ʿImrān)
wird der Messias als ein “Wort” von Gott bezeichnet (3:45), und seine
Anhänger – die Jünger – werden “Gottergebene” (muslimūn) genannt
(3:52). Außerdem wird ein Vergleich gezogen zwischen seiner
Erschaffung ohne Vater und der Erschaffung Adams aus Staub (3:59).
Diese Herausforderung an die Christen – die Christen aus Naǧrān, die
nach Medina gekommen waren, um mit Muhammad über die Natur
Jesu zu disputieren – setzt die Sure dann folgendermaßen fort:
“Wenn darüber jemand mit dir streitet, nach all dem, was an Wis￾
sen zu dir kam, so sprich: ‘Kommt her, wir wollen unsere und eure
Söhne rufen und unsere und eure Frauen und uns und euch! Dann
lasst uns einen Eid ablegen und den Fluch Gottes auf die Lügner
wünschen!’” (3:61)7
7 Die Prophetenbiographie von Ibn Hišām widmet der Frage, was der Koran
über die Christen aus Naǧrān sagt, ein ganzes Kapitel. Ibn Hišām meint, dass
der Anfang von Sure 3 bis ca. Vers 80 offenbart wurde, um “ihre Positionen
und Differenzen” darzustellen (Ibn Hišām 1975, II: 160). Als Ibn Hišām in
seinen ausführlichen Darlegungen zu dieser Sure bei diesem Verfluchungs￾
Vers ankommt – dem Aufruf des Propheten an die Christen, sich mit den
Muslimen zu vereinigen, einen Eid vor Gott abzulegen und den Fluch auf die
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 137
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Der Streit zwischen Muslimen und Juden erweist sich in diesem
Zusammenhang als Kampf um die höchste Autorität, verkörpert im
Propheten Abraham. Dabei argumentiert der Diskurs des Korans mit
Hilfe der Logik und ruft zur Einheit der Wahrheit auf, das heißt des
“Islams” in seiner ursprünglichen Bedeutung, also der Unterwerfung
unter den einen Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt. Und
er schiebt die Differenzen beiseite, die sich nach Abraham zwischen
Juden und Christen gebildet hatten:
“Sprich: ‘Ihr Buchbesitzer! Kommt her zu einem Wort zwischen uns
und euch auf gleicher Basis! Dass wir keinem dienen außer Gott,
dass wir ihm nichts beigesellen und dass wir uns nicht unterein￾
ander zu Herren nehmen neben Gott.’ Und wenn sie sich abwen￾
den, sprecht: ‘Bezeugt, dass wir ergeben (muslimūn) sind!’ Ihr
Buchbesitzer! Weshalb streitet ihr über Abraham? Wo doch Tora
und Evangelium erst nach ihm herabgesandt wurden? Begreift ihr
denn nicht? Ihr da! Ihr habt gestritten über etwas, wovon ihr Wis￾
sen habt. Doch warum streitet ihr nun über etwas, wovon ihr kein
Wissen habt? Gott weiß, ihr aber wisst nicht. Abraham war weder
Jude noch Christ; sondern er war ein wahrer Gläubiger (ḥanīf), ein
Gottergebener (muslim). Und er war keiner von den Beigesellern.”
(3:64–67)
Lügner zum Thema Jesus zu wünschen –, erklärt er, dass die Weigerung der
Christen, diese Herausforderung anzunehmen, daher rührt, dass sie wussten,
dass Muhammad im Recht ist. So fragten sie ihren Anführer ʿAbd al-Masīḥ
(beachte die Bedeutung des Namens; wörtlich: “Diener des Messias”): “Oh
ʿAbd al-Masīḥ, was meinst du dazu? Da sagte er: ‘Bei Gott, ihr Christen, ihr
wisst doch, dass Muḥammad ein gesandter Prophet ist und mit definitiven
Aussagen über euer Vorbild zu euch kam. Ihr wisst auch, dass kein Volk
jemals einen Propheten verfluchte und darauf seine Alten hat leben und seine
Jungen hat aufwachsen sehen. Wenn ihr das tut, dann werdet ihr ausgerottet.
Wenn ihr aber an eurem Glauben festhalten und bei euren Aussagen über euer
Vorbild bleiben wollt, dann lasst den Mann in Ruhe und kehrt nach Hause
zurück.’” (Ibn Hišām 1975, II: 165–166). Die Prophetenbiographie stimmt
hier mit dem Koran in der generellen Verurteilung der Würdenträger der
Buchgläubigen überein, da sie die Wahrheit kennen, sie aber unbedingt ver￾
decken wollen, um ihre eigenen Interessen zu bewahren. Siehe Kapitel “Die
jüdische Warnung über den Gesandten Gottes” (Ibn Hišām 1975, I: 195ff.).
138 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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Der Koran festigt so also seine Position, indem er sich auf den “Mus￾
lim” und “Ḥanīfen” Abraham bezieht, der weder Jude noch Christ
war, denn die Tora und die Evangelien – die Gründungstexte von
Judentum und Christentum – sind ja erst nach ihm entstanden. In
seiner Polemik gegen die Juden behandelt der Koran unter anderem
auch ihre Haltung zu Maria, der sie Unzucht vorwarfen, und er geht
auf die Behauptung der Juden ein, den Messias getötet und gekreu￾
zigt zu haben, was wie eine Verteidigung des Christentums, des Mes￾
sias sowie seiner Mutter wirkt. Doch der Koran begibt sich dabei auch
in einen Streit mit den Christen, denn er leugnet die göttliche Natur
des Messias, während er zugleich bekräftigt, dass dieser “Geist von
Gott” und “Wort Gottes” ist:
“Die Buchbesitzer fordern von dir, dass du ein Buch vom Himmel
auf sie herniederkommen lässt. Doch von Mose forderten sie Grö￾
ßeres als das und sprachen: ‘Lass uns Gott leibhaftig schauen!’ Da
aber nahm sie der Donnerschlag hinweg – ihres Frevels wegen.
Dann aber nahmen sie das Kalb, nachdem doch die Beweise zu
ihnen gekommen waren. Wir aber vergaben ihnen das. Mose
gaben wir klare Vollmacht. Wir hoben den Berg über sie an, mit
ihrem Bund, und sprachen zu ihnen: ‘Geht durch das Tor, euch
niederwerfend!’ Wir sprachen zu ihnen: ‘Übertretet nicht den Sab￾
bat!’ Und wir nahmen von ihnen einen festen Bund entgegen. Weil
sie ihren Bund gebrochen hatten und Gottes Zeichen leugneten
und die Propheten grundlos töteten und sprachen: ‘Unsere Her￾
zen sind unbeschnitten!’ – doch Gott versiegelte sie wegen ihres
Unglaubens, so dass nur wenige ihnen glaubten –, und weil sie
ungläubig waren und Maria ungeheuerlich verleumdeten und
weil sie sprachen: ‘Wir haben Christus Jesus, den Sohn Marias,
den Gesandten Gottes, getötet!’ Aber sie haben ihn nicht getötet
und haben ihn auch nicht gekreuzigt. Sondern es kam ihnen nur
so vor. Siehe, jene, die darüber uneins sind, sind wahrlich über
ihn im Zweifel. Kein Wissen haben sie darüber, nur der Vermu￾
tung folgen sie. Sie haben ihn nicht getötet, mit Gewissheit nicht,
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 139
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vielmehr hat Gott ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig, weise. Es
gibt keinen von den Buchbesitzern, der nicht vor seinem Tode an
ihn glauben würde. Er wird Zeuge sein am Tag der Auferstehung
gegen sie.” (4:153–159)
“Ihr Buchbesitzer! Geht nicht zu weit in eurer Religion, und sagt
nur die Wahrheit über Gott! Siehe, Christus Jesus, Marias Sohn, ist
der Gesandte Gottes und sein Wort, das er an Maria richtete, und
ist Geist von ihm. So glaubt an Gott und seine Gesandten und sagt
nicht: ‘Drei!’ Hört auf damit, es wäre für euch besser. Denn siehe,
Gott ist ein Gott; fern sei es, dass er einen Sohn habe. Sein ist, was
in den Himmeln und auf Erden ist. Gott genügt als Anwalt. Chris￾
tus wird es nie verschmähen, ein Knecht Gottes zu sein, und auch
die Engel, die ihm nahestehen, nicht. Wer es jedoch verschmäht,
ihm zu dienen, und sich erhaben dünkt, die wird er allesamt zu
sich versammeln. Doch denen, welche glauben und gute Werke
tun, wird er ihren Lohn in vollem Maße geben und ihnen noch
mehr Huld gewähren. Die aber, welche es verschmähen und sich
erhaben dünken, wird er mit schmerzhafter Pein bestrafen, die
werden gegen Gott weder Freund noch Helfer finden.” (4:171–
173)8
8 Es ist deutlich, dass der Koran in seiner Leugnung, dass die Juden den
Messias getötet oder gekreuzigt haben, auf deren Aussage “Wir haben den
Messias getötet” reagiert. Diese Aussage enthält eine indirekte Drohung an
Muhammad, da die Juden in der Lage seien, auch ihn zu töten, so wie sie
zuvor den Messias getötet hätten. Das heißt, dass der Koran, wenn er es leug￾
net, dass die Juden den Messias getötet oder gekreuzigt haben, ihre Behaup￾
tung zurückweist, eine unabhängige Fähigkeit zum Handeln zu haben. Ich
glaube, dass es dem Koran nicht darum ging, die Kreuzigung als historische
Tatsache zu leugnen. Denn hätte die Frage der Kreuzigung zu den zentra￾
len theologischen Streitfragen zwischen Islam und Christentum gehört, dann
hätte der Koran das öfters wiederholt, so wie er die Leugnung der göttlichen
Natur des Messias und seiner Sohnschaft an mehreren Stellen wiederholt.
Die Leugnung der Ermordung und der Kreuzigung Jesu im Kontext dieser
Polemik mit den Juden bedeutet vielleicht die Zurückweisung ihrer Behaup￾
tung einer absoluten Fähigkeit, das zu tun, was sie wollen, unabhängig vom
göttlichen Willen. Man kann das mit ähnlichen Stellen im Koran vergleichen
140 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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So kam es zu der Formulierung des koranischen Dogmas über den
Messias als “der Gesandte Gottes und sein Wort, das er an Maria rich￾
tete, und Geist von ihm”. Im letzten Abschnitt über das Wort und
den Geist widerspricht das koranische Dogma nicht dem christlichen
Dogma. Der Widerspruch liegt aber im ersten Teil, der die göttliche
Natur und die Gottessohnschaft des Messias ablehnt, wie es sich in
der strikten Ablehnung der Trinität zusammenfassen lässt. Es scheint,
dass die Verbindung der Attribute des Geistes und des Wortes einer￾
seits sowie der Attribute von Knechtschaft, Menschennatur und Pro￾
phetenschaft andererseits im Dogma des Korans aus der christlich￾
theologischen Sicht, wie Johannes Damascenus sie anlegt, einen
Widerspruch produziert. Es bleibt die Frage der Prophezeiung durch
den Messias, dass nach ihm ein Prophet mit dem Namen Aḥmad kom￾
men werde (vgl. 61:6).9 Es scheint, als war sich Johannes Damasce￾
nus dieser Prophezeiung entweder nicht bewusst oder als habe er es
nicht vermocht, sie aus ihrer koranischen Quelle heraus zu akzeptie￾
ren.
wie: “Nicht ihr habt sie getötet, sondern Gott. Nicht du hast, als du warfst,
geworfen, sondern Gott.”
9 Die Prophetenbiographie von Ibn Hišām (vgl. oben) behandelt ausführlich
die Erwartungen der christlichen Mönche über die Ankunft eines Prophe￾
ten. Dieser wird im Johannes-Evangelium laut Ibn Hišām unter dem Namen
al-Munḥaminnā genannt, was Ibn Hišām als einen assyrischen Namen erklärt,
der Muḥammad (der Gepriesene) bedeute, was auf Griechisch “Periklytos”
(al-Barqalīṭis) heiße (vgl. Ibn Hišām 1975, I: 215). Die Prophetenbiographie
versucht so, eine Verbindung zwischen dem Koran und dem Evangelium her￾
zustellen. Siehe auch das Kapitel über die Geschichte des Mönchs Buḥairā, der
Muhammads Prophetie in Bosra in Syrien erkannt habe (vgl. Ibn Hišām 1975,
I: 165ff.), und die Voraussage seiner Prophetie durch Waraqa Ibn Naufal samt
seiner Bestätigung ihrer Wahrhaftigkeit nach Muhammads erster Begegnung
mit dem himmlischen Engel (vgl. Ibn Hišām 1975, I: 175, 222). In all diesen
Punkten zeigt die Prophetenbiographie die Realität des Austauschs zwischen
Islam und Christentum. Denn das Christentum – und auch das Judentum –
kündigten ihr zufolge den Islam und den erwarteten Propheten an, der in der
Tora und der Bibel erwähnt wird, wie der Koran es sagt. Doch die jüdischen
Priester und die christlichen Mönche hätten sich gegen die neue Religion
gestellt. Das bekräftigt die erwähnte “emotionale” Verbindung auf der einen
Seite und die politische “Feindschaft” auf der anderen.
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 141
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2. Johannes Damascenus und Theodor Abū Qurra
Johannes Damascenus wurde im Jahre 675 in Damaskus geboren und
folgte seinem Vater auf seiner Stelle im Schatzhaus des Umayyaden￾
palastes. Es ist deutlich, dass er eine arabische Ausbildung erhielt.
Vielleicht studierte er auch den Koran; den Eindruck vermitteln
jedenfalls seine Schriften. Sein Vater legte Wert darauf, ihm Lehrer
zu vermitteln, die ihm Griechisch und Theologie beibrachten. Noch
während er seine Regierungsstelle im Schatzhaus innehatte, begann
er mit dem Verfassen religiöser Schriften. Er schrieb drei Abhandlun￾
gen über Ikonen, deren Existenz er gegen die sogenannten Ikonoklas￾
ten verteidigte, also gegen jene, die Bilder und Statuen in Kirchen
verbieten wollten. Diese Frage beschäftigte die kirchlichen Konzilien
in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, vor allem seit dem Erlass
des byzantinischen Kaisers Leo III. im Jahre 726, der die Bilder und
Statuen verboten hatte. Johannes richtete seine drei Schriften um das
Jahr 730 herum gegen den Erlass des Kaisers. Das führte im Jahre
754 zu seiner Verurteilung durch das Konzil von Hiereia. Doch im
Jahre 787 rehabilitierte ihn das Konzil von Nicäa, als es den entspre￾
chenden Beschluss wieder aufhob.
Im Jahre 730 entschied Johannes, sich aus dem öffentlichen
Leben zurückzuziehen und den Weg eines Mönchs einzuschlagen.
Er wurde Mitglied im Kloster Mār Sābā nahe Jerusalem, wo er sein
Leben mit Lektüre, Schreiben und Predigten verbrachte. Zu den wich￾
tigsten seiner über 150 Werke gehört das berühmte Buch Die Quelle
der Erkenntnis, das aus drei Teilen besteht: Der philosophische erste
Teil (Dialektik) stützt sich vor allem auf neuplatonische Quellen aus
dem 3. Jahrhundert, vor allem die Einleitung von Porphyrius zur
aristotelischen Logik. Der historische zweite Teil (Über die Häresien)
stützt sich auf griechische Texte aus dem 4. Jahrhundert. Dieser Teil
enthält auch ein Kapitel über die “Häresie der Ismaeliten”, womit
Johannes die Nachkommen Ismaels meint, das heißt die Araber, zu
denen auch Muhammad gehörte. Der dritte Teil (Ekdosis) stellt das
orthodoxe christliche Dogma dar und liefert dabei eine ausführliche
142 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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Zusammenfassung der Schriften der Kirchenväter aus dem 4. Jahr￾
hundert. Die Originalität von Johannes zeigt sich in seiner Auswahl
und Kommentierung der Texte, wobei er die analytische Theologie
von Antiochia darlegt. Dieser Teil enthält auch nützliche Überlegun￾
gen über die Natur und die Existenz Gottes, was viele der überzeugen￾
den Gedanken späterer Theologen geprägt hat, und widmet sich einer
Diskussion und Analyse der Natur der Willens- und Wahlfreiheit. Das
war wegen ihres Zusammenhangs mit dem Konzept der individuellen
Verantwortung mit Blick auf die Erlösung für den Autor eine heikle
Frage. Aus der Sicht von Johannes steht der menschliche Wille für
eine rationale Neigung zum Guten. Er arbeitet mit Blick auf die Ziele,
nicht die Mittel. Das rückt den Willen in die Nähe der Vernunft und
verbindet ihn mit ihr. Bei Gott gibt es dagegen einen Willen ohne
Wahl, im Sinne eines rationalen Abwägens zwischen Möglichkeiten.
Das Buch – vor allem sein dritter Teil – ist das zentrale Verbin￾
dungsglied zwischen der griechischen und der lateinischen Theologie
im Mittelalter, was Johannes zum letzten der östlichen Kirchenväter
macht. Nicht nur sahen die östlichen und westlichen Theologen das
Buch durch seine Übersetzungen in die orientalischen Sprachen und
ins Lateinische als eine Quelle des logischen und theologischen Den￾
kens an, sondern durch seine kohärente logische Struktur wurde es
auch zu einem Vorbild späterer theologischer Schriften des Mittelal￾
ters (vgl. Sahas 1972: 52).
Was Theodor Abū Qurra angeht, über den im Westen vor der
Veröffentlichung seiner ins Lateinische übersetzten griechischen
Schriften im 16. Jahrhundert nichts bekannt war, so begann er sein
Leben als Mönch im besagten Kloster des Heiligen Sābās nahe Jerusa￾
lem. Dort gab er sich der Askese und geistigen Übungen auf dem Pfad
von Johannes Damascenus hin. Zugleich begann er, auf Arabisch und
Assyrisch über die philosophische Theologie zu schreiben, wobei er
Fragen wie den Monotheismus, die Möglichkeit der Offenbarung, die
menschliche Freiheit und die Vergebung der Sünden diskutierte.
Am Ende des 8. Jahrhunderts war Theodor Bischof in Ḥarrān
geworden, und er führte jetzt Debatten mit verschiedenen religiö-
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 143
Urheberrechtlich geschütztes Material
sen Gruppierungen unter den Einwohnern der Region. Dazu zählten
Monophysiten, die an eine einzige (nämlich die göttliche) Natur des
Messias glaubten, sowie Muslime, Juden, Manichäer (Anhänger des
Mānī, die an zwei widerstreitende göttliche Kräfte glaubten: die Kraft
des Guten, verkörpert im Licht, und die Kraft des Bösen, verkörpert
in der Dunkelheit) und Sabier (Anbeter der Sterne und Planeten). Er
verfasste einige theologische Werke auf Griechisch, den byzantini￾
schen Herrschern gewidmet, über die Frage der Bilder und Statuen in
den Kirchen (also des Ikonoklasmus). Doch der Patriarch von Antio￾
chia setzte ihn als Bischof ab, was wohl auf seinen übertriebenen
Eifer, sein öffentliches Werben für die im Jahre 451 vom Konzil von
Chalkedon verkündeten orthodoxen christlichen Lehren und seine
Sympathie für die Idee einer Führung der christlichen Welt durch den
Papst zurückging.10 Nach seiner Rückkehr ins Kloster des Heiligen
Sābās widmete sich Theodor mit neuer Kraft seinen Aktivitäten in
Schreiben und Askese. So verfasste er im Jahre 813 seinen berühm￾
ten Brief an die Armenier, in dem er die orthodoxe Position gegen
die Ikonoklasten und die Monophysiten verteidigte. Ab 815 begann
er dann mit einer Serie von Reisen nach Alexandria und Armenien,
um die Anhänger der Orthodoxie zu fördern. Er disputierte mit den
Monophysiten und mit dem abbasidischen Kalifen in Bagdad über die
Unterschiede des Monotheismus in Christentum und Islam.
10 In Fn. 3 habe ich auf die Differenzen zwischen Antiochia, dem Vertreter der
Ostkirche, und der Westkirche hingewiesen. Im Konzil von Chalkedon wurde
451 verkündet, “dass der Messias ein und derselbe Sohn Gottes ist und ein
und derselbe Herr, in zwei Naturen, unvermischt, unverändert (gegen die
Monophysiten, die Vertreter der einzigen Natur), ungeteilt und ungetrennt
(gegen die Nestorianer) und ohne dass diese Vereinigung die Besonderheit
der beiden Naturen aufhebt, sondern dass die Eigentümlichkeit beider Natu￾
ren bestehen bleibt.” (zitiert nach aš-Šarafī 1986: 94) Anscheinend bestrafte
der Patriarch von Antiochia Theodor wegen seines übertriebenen Eifers für
das orthodoxe Dogma, wie es in diesem Konzil zum Ausdruck kam.
144 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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3. Die christliche Polemik
(von Johannes und Theodor) gegen den Islam11
In dieser frühen Polemik finden wir keinen direkten Hinweis auf den
Islam oder die Muslime, sondern die Muslime werden hier mit Blick
auf ihre Abstammung von Ismael als “Ismaeliten” bezeichnet. Außer￾
dem werden sie “Sarazenen” genannt, was sich auf Sara bezieht, die
Frau des Propheten Abraham, die, nachdem sie Isaak geboren hatte,
Ismaels Mutter Hagar samt ihrem Kind aus dem Haushalt verstoßen
hatte. In dieser Einordnung der Muslime stützt sich Johannes (im
ersten Anhang) auf die alttestamentarische Geschichte über Hagars
Vertreibung durch Sara. Damit meint er, dass die “Muslime” diejeni￾
gen, die aus dem Hause des Propheten verstoßen wurden, bzw. ihre
Nachkommen seien. Er selbst sagt das natürlich nicht so, aber dieser
Name für die Muslime blieb im christlichen Erbe noch lange geläufig.
Eingangs müssen wir bedenken, dass sich dieser Teil nicht an die
Muslime oder die Araber richtete. Angesprochen war hier vielmehr
der christliche Leser – aber nicht der gewöhnliche Christ, sondern
vor allem der Theologe. Davon ausgehend müssen wir zwei Dinge
verstehen: Erstens geht es Johannes hier um Spott und darum, dem
Islam jegliche geistige Authentizität abzusprechen. Zweitens ist er im
Wesentlichen damit befasst, auf den koranischen Vorwurf des Poly￾
theismus und des Unglaubens an die Christen zu reagieren. Hierbei
zahlt er es den Muslimen doppelt heim, wie wir noch sehen werden.
Nach seiner Erklärung zum Namen der Sarazenen führt Johannes
aus, dass diese bis zum Ende der Herrschaftszeit von Herakleios, dem
Kaiser des Oströmischen Reiches (610–641), Götzendiener waren.
Und er fährt fort:
“From that time on a false prophet appeared among them, sur￾
named Mameth, who, having casually been exposed to the Old
11 Ich stütze mich in dieser Darstellung auf die drei Anhänge im Buch von Sahas
(vgl. Fn. 6), aus dem Griechischen ins Englische übersetzt.
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 145
Urheberrechtlich geschütztes Material
and the New Testament and supposedly encountered an Arian
monk, formed a heresy of his own. And after, by pretence, he man￾
aged to make the people think of him as a God-fearing fellow, he
spread rumors that a scripture was brought down to him from
heaven. Thus, having drafted some pronouncements in his book,
worthy (only) of laughter, he handed it down to them in order
that they may comply with it.” (Sahas 1972: 133)
Nach dieser Einleitung stellt Johannes das islamische Dogma des
Monotheismus weitgehend objektiv und zuverlässig dar, obwohl er
sagt, dass die Aussagen des Buches – des Buches von Muhammad,
also des Korans – nur Gelächter verdienten. Die Darstellung von
Sahas, der in Kap. 5 seines Buches (Sahas 1972: 67–130) dem Text
detailliert folgt und dabei die Genauigkeit der Koranzitate aufzeigt,
interessiert uns hier nicht. Es ist deutlich, dass das “Gelächter” von
Johannes nicht daher rührt, dass Gott laut dem Koran der “Eine” ist,
der “Beständige”, “der nicht zeugte und nicht gezeugt wurde und
dem keiner ebenbürtig ist” (112:1–4). Es hat vielmehr damit zu tun,
was der Koran über Jesus als das “Wort Gottes” und als “Geist von
ihm” sagt, wobei er zugleich bekräftigt, dass Jesus bloß ein Prophet
und weder Gott noch Gottessohn sei.12 Das Gelächter gilt zudem den
Koranstellen über die Kreuzigung sowie der Idee, dass es den Juden
12 “He [Muhammad] says that there exists one God maker of all, who was nei

ther begotten nor has he begotten. He says that Christ is the word of God, and
his spirit, created and a servant, and that he was born without a seed from
Mary, the sister of Moses and Aaron. For, he says, the Word of God and the
Spirit entered Mary and she gave birth to Jesus who was a prophet and a ser￾
vant of God. And that the Jews, having themselves violated the Law, wanted
to crucify him and after they arrested him they crucified his shadow, but
Christ himself, they say, was not crucified nor did he die; for God took him
up to himself into heaven because he loved him. And this is what he says, that
when Christ went up to the heavens God questioned him saying: ‘O Jesus, did
you say that ‘I am Son of God, and God’?’ And Jesus, they say, answered: ‘Be
merciful to me, Lord; you know that I did not say so, nor will I boast that I am
your servant; but men who have gone astray wrote that I made this statement
and they said lies against me and they have been in error’. And God, they say,
answered to him: ‘I knew that you would not say this thing’.” (Sahas 1972:
133ff.)
146 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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“nur so vorkam” (4:157), so dass sie seinen Schatten kreuzigten, wie
Johannes sagt. Das rufe Spott hervor und verdiene nichts als Geläch￾
ter, denn es sei völliger Unsinn. Die Antwort darauf verschiebt Johan￾
nes auf eine spätere Darstellung.
3.1 Der falsche Prophet
Da Johannes den Islam zu Beginn als christliche Häresie klassifiziert,
ist es nur natürlich, dass er Muhammad als den “Antichrist” beschreibt.
Darauf beginnt Johannes damit, die Prophetie Muhammads – bzw.
Mameths – zu diskutieren, wobei er deutlich macht, wie schwer es sei,
an sie zu glauben: Die zentrale Schwierigkeit liege in der Abwesen￾
heit jeglicher früherer Prophezeiung über sein Erscheinen und in der
Abwesenheit von Zeugen, die die Echtheit seiner Prophetie bestätigen.
Denn im Gegensatz zu Moses, “[who] received the Law by the Mount
Sinai in the sight of all the people when God appeared in cloud and
fire and darkness and storm”, hatte Muhammad keine Zeugen. Johan￾
nes zufolge sagen die Ismaeliten über ihn: “while he was asleep the
scripture came down upon him”, ohne dass es dafür Zeugen gäbe. Und
im Gegensatz zu Jesus, dessen Erscheinen sämtliche Propheten seit
Moses mit der Aussage vorausgesagt hätten, dass der Herr seinen Sohn
in Menschenform senden werde und dass dieser gekreuzigt werde und
sterben und richten werde über die Lebenden und die Toten, habe nie￾
mand Muhammads Kommen vorausgesagt, und niemand habe gese￾
hen, wie er vom Herrn das Buch empfangen habe, so wie die Israeliten
Moses gesehen hätten (vgl. Sahas 1972: 135).
Auf dieses Thema kommt Johannes, niedergeschrieben von Theo￾
dor, in seinem Disput mit dem Muslim im dritten Anhang zurück. Er
fügt hier aber noch einen weiteren Aspekt hinzu: das Ausbleiben von
Wundern durch Muhammads Wirken nach Art der Wunder, die Moses
und Jesus wirkten, wie die Verwandlung des Stocks in eine Schlange
und das Herausziehen der weißen Hand ohne Schaden vor dem Pha￾
rao durch Moses (u. a. 20:20ff.) sowie die Wiederbelebung der Toten
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 147
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und die Heilung der Kranken bei Jesus (3:49). Das sind Wunder, die
der Koran ausführlich behandelt. Nach einem Vergleich zwischen
der Prophetie des Moses und dem Erscheinen des Messias auf der
einen Seite sowie der Abwesenheit von Zeugen und Wundern im Falle
Muhammads auf der anderen Seite fragt Johannes: “Wie steht es nach
diesem Vergleich um euren Propheten?”13 In seiner Schrift (im ersten
Anhang) führt Johannes seinen Spott gegenüber jenen naiven Saraze￾
nen dann weiter, wenn er sagt:
“[And] when (…) we ask, ‘How is it that your prophet did not
come this way, by having others bearing witness to him, nor did
– as in the case of Moses, that God gave the Law to him while
the people were looking and the mountain was in smoke – God
give him as well, as you claim, the scripture in your presence so
that you, too, have an assurance?’, they reply that God does what￾
ever he pleases. (…) When again we ask them, ‘How is it that,
although in your scripture he commanded not to do anything or
13 In diesem Text provoziert der Muslim Theodor mit einer Reihe von Fragen,
die auf den Schluss hinauslaufen, dass die letzte Religion im Vergleich zu den
früheren die beste ist. Der Dialog beginnt mit einem Vergleich des Götzen￾
dienstes vor und nach dem Kommen von Moses und kommt dabei zu dem
Schluss, dass jene, die Moses folgten und Juden wurden, im Vergleich zu
denen, die weiterhin Götzen anbeteten, die Guten waren. Nach dem Erschei￾
nen von Jesus lautete die Frage wieder, wer die Guten waren: die, die Jesus
folgten und Christen wurden, oder die, die Juden blieben? In beiden Fäl￾
len stimmt Theodors Antwort mit der provokanten Frage überein. Als der
Muslim ihn schließlich fragt, ob auch die Anhänger Muhammads, also die,
die Muslime wurden, die Guten waren oder jene, die Christen blieben, ant￾
wortet Theodor: “Diejenigen, die beim Christentum blieben”. Als der Muslim
daraufhin einwendet, dass diese Schlussfolgerung nicht zu den vorherigen
Antworten passe, antwortet Theodor mit einer provokanten Frage: “Well, is it
necessary for me to draw a conclusion to a false statement? For, Muhammad
was not as Moses and Christ, who proved worthy of being accepted because
they preached and taught, so that Muhammad also be believed for his pre￾
aching and teaching; but listen to what makes each one of them worthy of
being accepted.” Hier beginnt Theodor dann damit, die von Moses und Jesus
gewirkten Wunder aufzuzählen, die ihren Anspruch bewiesen, während
Muhammad keine Beweise habe. “Where, therefore, does your prophet fall?”
Hier beendet Theodor seinen Dialog (vgl. Sahas 1972: 157ff.).
148 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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receive anything without witnesses, you did not ask him ‘You first
prove with witnesses that you are a prophet and that you came
from God, and which scripture testifies about you’, they remain
silent because of shame. Since you are not permitted to marry a
woman without witnesses, neither to purchase something, nor to
acquire property – you do not even condescend to have an ass or
an animal without witnesses – you have women, and properties,
and asses and everything else through witnesses; and yet, only
your faith and your scripture you have without a witness. And
this is because the one who handed it down to you does not have
any certification from anywhere, nor is there any one known who
testified about him in advance, but he, furthermore, received this
while asleep.” (Sahas 1972: 135)
Zu all diesen Fragen, die Johannes hier stellt, sagt er, dass die Mus￾
lime – die Ismaeliten und Sarazenen – vor Scham schwiegen, wenn
sie sie hörten, ja dass sie es wohl gar als Schande empfänden.
3.2 Die Widersprüche des Korans
Es ist äußerst merkwürdig, dass Johannes hier sagt:
“Moreover they call us Associators, because, they say, we introduce
beside God an associate to Him by saying that Christ is the Son of
God and God. To whom we answer, that this is what the prophets
and the Scripture have handed down to us; and you, as you claim,
accept the prophets. If, therefore, we wrongly say that Christ is
Son of God they also were wrong, who taught and handed it down
to us so. And some of them maintain that we have added such
things, by having allegorized the prophets [d. h. durch taʾwīl].14
14 Ich komme später auf die Frage des taʾwīl – des taʾwīl al-mutašābih (der Aus

legung des Unklaren), um fitna (Streit) zu produzieren, wie es in 3:7 genannt
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 149
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Others hold that the Jews, out of hatred, deceived us with writings
which supposedly originated from the prophets so that we might
get lost.” (Sahas 1972: 135ff.)
Deutlich ist, dass Johannes in diesem erfundenen Dialog – bzw. in
dieser Polemik – auf die koranischen Aussagen über das “Wegrücken
der Wörter von ihrem Platz” (u. a. 4:46) und die bewusste Verände￾
rung der Texte durch die jüdischen Priester wegen weltlicher Interes￾
sen verweist. Ja, er spricht sogar das Problem des “Missverstehens”
oder vielleicht des “Befolgens des Unklaren” (ittibāʿ al-mutašābih) aus
den Aussagen der Propheten an.15 Und deutlich ist auch, dass Johan￾
nes hier weniger eine Antwort gibt als dass er zum Ausdruck bringt,
wie sehr es ihn schmerzt, als Polytheist beschuldigt zu werden, was
er zurückzuweisen versucht. Dazu kommt, dass dieser Vorwurf des
Polytheismus bzw. des Unglaubens aus Sicht der christlichen Theolo￾
gie unverständlich ist. Deshalb meint Johannes, dass das koranische
Dogma über den Messias verworren ist. Denn wie könne der Koran
zwar anerkennen, dass Jesus das “Wort Gottes” und “Geist von ihm”
sei, dann aber sagen, dass er “geschaffen” sei wie der Rest der Schöp￾
fung und “gestorben” wie alle geschaffenen Wesen, ohne gekreuzigt
worden zu sein, und dann aber wieder zum Leben erweckt und an die
Seite seines Vaters erhoben worden sei? Dieser Widerspruch führt aus
Sicht von Johannes zu der Vorstellung, dass Gott, bevor er das Wort
und den Geist schuf – gemäß der Idee, dass Jesus geschaffen ist –
ohne Geist und ohne Wort war. Und hier zahlt er es den Muslimen
nun doppelt heim:
wird – und auf sein Verhältnis zum sehr frühen Disput in der Geschichte des
Islams mit den Christen aus Naǧrān zu sprechen.
15 Der Begriff “Missverstehen” (sūʾ al-fahm) ist meine Übersetzung für den engli

schen Ausdruck “by having allegorized the prophets”. Interessant ist, dass die
Frage des “Befolgens des Unklaren”, die in 3:7 genannt wird, eine Antwort
auf die Christen aus Naǧrān sein kann, die mit Muhammad über die Frage
des Messias diskutierten, und das vor dem Hintergrund, dass der Koran die
Göttlichkeit von Jesus betont, indem er bekräftigt, dass er Wort und Geist ist.
150 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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“Again we respond to them: ‘Since you say that Christ is Word and
Spirit of God, how do you scold us as Associators? For the Word
and the Spirit is inseparable each from the one in whom this has
the origin; if, therefore, the Word is in God it is obvious that he
is God as well. If, on the other hand, this is outside of God, then
God, according to you, is without word and without spirit. Thus,
trying to avoid making associates to God you have mutilated Him
[d. h.: ihr habt taʿṭīl betrieben]16. For it would be better if you
were saying that he has an associate than to mutilate him and int￾
roduce him as if he were a stone, or wood, or any of the inanimate
objects. Therefore, by accusing us falsely, you call us Associators;
we, however, call you Mutilators (Coptas) of God’.” (Sahas 1972:
137)
Johannes widmet sich dann weiter den sogenannten Widersprüchen
des Korans und begibt sich in eine Diskussion zur Frage der Polyga￾
mie. Dabei geht es um die Geschichte der Heirat des Propheten mit
Zainab Bint Ǧaḥš, nachdem Zaid Ibn Ḥāriṯa sich von ihr hatte schei￾
den lassen. Johannes versucht hier, jenen Propheten herabzuwürdi￾
gen, der nur damit beschäftigt gewesen sei, seine sexuellen Gelüste
zu befriedigen. Von dieser Geschichte aus kommt er auf den musli￾
mischen Vorwurf an die Christen, dass sie das Kreuz verehrten, und
er erwidert ihnen, dass sie dafür einen Stein verehren – den Schwar￾
zen Stein in Mekka – den sie für den Stein hielten, an dem Abraham
seinen Esel anband, als er hinging, um seinen Sohn zu opfern. Es ist
jedoch schwer, die islamische Quelle zur Rechtfertigung der Bedeu￾
tung des Schwarzen Steines zu erkennen. Mit scharfer Ironie endet
16 Ich verwende hier den Begriff taʿtīl (Leugnung der Attribute Gottes) als Über

setzung für den englischen Begriff “mutilation”, was man auch mit tašwīh
(Verfälschung) übersetzen könnte. Den Begriff taʿtīl benutzten jedoch die
Gegner der Muʿtazila für die Leugnung, dass die Attribute Gottes Teil seines
Wesens seien. Zu den wichtigsten Attributen, die die Muʿtazila dem göttlichen
Wesen absprachen, gehört das Attribut der “Rede”, das sie zu den Tatattribu￾
ten zählten und nicht zu den Wesensattributen. Siehe Abu Zaid 1998: 70f.
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 151
Urheberrechtlich geschütztes Material
Johannes dann bei der Geschichte vom “Kamel Ṣāliḥs” (bei Johannes:
dem “Kamel Gottes”). Er erzählt die Details dieser Geschichte, die er
den Muslimen zuschreibt. Auch hier ist es schwer, die entsprechende
Quelle zu erkennen. Am Schluss sagt er wieder, wovon er schon aus￾
gegangen war: Jenes Buch, von dem Muhammad angibt, dass der
Herr es ihm übersandt habe, enthalte nur Lächerlichkeiten.
Am Ende dieser Ausführungen kann man sagen, dass die zent￾
rale Diskussionsachse die Frage nach dem göttlichen “Wort” ist – also
dem Messias: Ist es zeitlos und ewig, wie die Christen glauben, oder
geschaffen, wie dem Koran gemäß die Muslime glauben? Ich denke,
dass diese Frage die eigentliche Achse des Disputs war und dass der
Islam deshalb unter die christlichen Häresien einsortiert wurde. Weil
sich das Buch von Johannes an die Christen wendete, um sie vor den
Häresien zu schützen, war es nur natürlich, dass die Frage nach der
Natur des Wortes im Zentrum des Disputs stand.
Was jedoch Theodor Abū Qurra betrifft, so war er in erster Linie
damit beschäftigt, mit den Muslimen zu diskutieren. Deshalb hat sein
Diskurs – im zweiten und dritten Anhang – die Form: “Wenn der Mus￾
lim dies sagt, dann sage du jenes” bzw. “Wenn dich der Muslim dies
fragt, dann musst du bei der Antwort vorsichtig sein. Denn wenn du
das verneinst, dann wird er dies zu dir sagen, und wenn du es bejahst,
dann wird er jenes zu dir sagen. Also gib Acht!” Hinter dieser Art von
Schriften verbirgt sich eine Welt voller Dispute auf den Märkten und
an öffentlichen Orten, in den Versammlungen von Denkern in priva￾
ten und öffentlichen Zirkeln sowie in den Palästen der Kalifen, Prin￾
zen und Herrscher. Zur Frage des Wortes fügt Theodor noch einige
Details hinzu, die Johannes nicht im Sinn hatte.
3.3 Gottes Wort oder Rede Gottes?
Dazu gehört eine Frage bzw. Herausforderung, die Johannes an die
Muslime richtet: “Wenn das Wort und der Geist geschaffen sind, dann
heißt das, dass Gott vor ihrer Schöpfung ohne Wort und ohne Geist
152 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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war.” Diese Frage wird im Rahmen des zunehmenden Disputs, auf
den wir hingewiesen haben, detailliert analysiert. Während Johannes
nicht auf die Feinheiten des Trinitätsbegriffs eingeht, da er darauf
in anderen Teilen des Buches zu sprechen kommt und es ihm auch
um das Aufzeigen der “Häresie” ging, war Theodor dazu gezwungen,
auf viele Details einzugehen, da er sich in den laufenden Disput hin￾
ein begab. Am Ende bleiben diese Details aber von den Thesen von
Johannes in den anderen Teilen seines Buches abhängig. So sehen
wir etwa, dass Johannes nicht auf die Differenzen eingeht, die im
Rahmen des frühen islamischen Denkens zwischen den ersten isla￾
mischen Theologen entstanden waren. Theodor konnte diese Diffe￾
renzen jedoch nicht übergehen, und sei es nur, um davon in seiner
Polemik gegen die Muslime zu profitieren. So rät er dem Christen:
“And if, compelled by surprise, he [the Saracene] tells you that
God created them [the Spirit and the Word], say to him: ‘(…)
Before God created the Word and the Spirit did he have neither
Spirit nor Word?’. And he will flee from you not having anything
to answer. For these are heretics, according to the Saracenes and
utterly despised and rejected; and if you want to report him to the
other Saracenes he will be very much afraid of you.” (Sahas 1972:
149ff.)
Dieser Verweis auf die Häresie der Erschaffenheit des Wortes lässt
uns an die Unterdrückung denken, die einigen frühen Denkern wider￾
fuhr, was wie im Falle von al-Ǧaʿd Ibn Dirham bis hin zum Mord
reichen konnte. Er wurde im Jahre 742 auf Befehl des Kalifen Hišām
Ibn ʿAbd al-Malik hingerichtet, ausgeführt durch seinen Gouverneur
Ḫālid al-Qasrī, im Anschluss an das Gebet am Tage des Opferfests
am Fuße des Minaretts, und das wegen seiner Thesen zur Erschaf￾
fenheit des Korans, der Erschaffenheit der Taten und der mensch￾
lichen Willensfreiheit. Von diesen Fragen soll der letzte Umayya￾
denkalif Marwān Ibn Muḥammad so stark beeinflusst gewesen sein,
dass ihn das zur Leugnung aller menschlichen Attribute Gottes (taʿṭīl)
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 153
Urheberrechtlich geschütztes Material
führte. Die Thesen von der Erschaffenheit des Korans, der Leugnung
der Attribute und der Erschaffung der Taten zählen zu den zentralen
Gründungsthesen des muʿtazilitischen Denkens. Es ist wichtig, hier
den Zusammenhang zwischen der Idee der Erschaffenheit des Korans
und der Leugnung der Attribute festzustellen, ein Zusammenhang,
auf den, wie gesagt, auch Johannes Damascenus hinwies. Theodor
Abū Qurra deckt diesen Umstand – die Opposition gegen die Vertre￾
ter der Erschaffenheit des Korans sowie ihre Ermordung – hier auf
und macht ihn für sich fruchtbar. Die Frage ist jetzt: War die Theorie
von der Erschaffenheit des Korans eine Reaktion auf die Herausfor￾
derung durch Johannes, indem sie die Position des Korans dadurch
bekräftigte, dass sie Jesus (Gottes Wort) und den Koran (Gottes Rede)
miteinander gleichsetzte und ähnliche Urteile über sie fällte, wäh￾
rend sie mit dem Ziel, den Monotheismus reinzuhalten, die Existenz
einer weiteren ewigen Wesenheit neben Gott ablehnte? Es ist nicht
unwahrscheinlich, dass man das bejahen kann, zumal al-Ǧaʿd ein
Zeitgenosse von Johannes war. Dafür spricht, dass sich die Verbin￾
dung zwischen Jesus – dem “Wort Gottes” – und der “Rede Gottes”
im Sinne von “Offenbarung” auch in dem Disput zeigt, den Theodor
wiedergibt:
“And the SARAC. might ask you, ‘The Words of God, are they crea￾
ted or uncreated?’ They pose to us this very difficult question in
their effort to prove that the Word of God is created, which is not
so. And if you answer ‘They are uncreated’ he tells you that, ‘Here,
all these that are words of God, although they are uncreated, yet
they are not Gods. Behold you confessed that Christ, although he
is the Word of God, he is not God’. For this reason let not the
Christian say either ‘created’ or ‘uncreated’ (but), ‘I confess that
there is only one hypostatic Word of God, who is uncreated, as
you also confessed; on the other hand my Scripture, as a whole, I
call not ‘Words’ but ‘utterances of God’’.” (Sahas 1972: 151)
154 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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Diese Unterscheidung zwischen dem “Wort Gottes” (dem ungeschaf￾
fenen Jesus) und der “Rede Gottes” (dem geschaffenen Diskurs)
überzeugt den Muslim nicht, denn im Koran und in der Bibel wird
zwischen einem ungeschaffenen “Wort” und geschaffenen “Wörtern”
nicht unterschieden. In seiner Polemik stützt sich der Muslim hier
nicht auf den Koran, sondern auf ein Zitat des Propheten David:
“And if the SARAC. says, ‘And how is that David says, ‘The words
of the Lord are words that are pure’, and not ‘The utterances of
the Lord are utterances that are pure’?’ reply to him: ‘The Prophet
spoke figuratively and not literally (…) Literal is a positive proof
of something, while figurative is an uncertain proof’.” (Sahas
1972: 151)
Es ist wichtig festzustellen, dass die Unterscheidung zwischen Wahr￾
heit und Metapher mit dem Ziel, Widersprüche und Gegensätze in
den Aussagen der Heiligen Texte zu beseitigen, als Methode von den
Muslimen stammt. Dass Theodor in einer solchen Unterscheidung hier
eine Lösung für das Problem sieht, das der Muslim aufwirft, zeigt die
Mechanismen der gegenseitigen Einflussnahme und des Beeinflusst￾
werdens, die der Disput zwischen den beiden Seiten hervorbrachte.
Deutlich wird das im folgenden Abschnitt über die Idee der göttlichen
Natur Jesu, eine der Folgen der Idee des ungeschaffenen Wortes.
3.4 Die göttliche Natur Jesu
In dieser Frage kommt die Herausforderung klar von der muslimi￾
schen Seite, während sich der Christ – der Produzent des Diskurses –
in der Defensive befindet. Das ist ein Phänomen, das sich im christ￾
lich-islamischen Disput in dieser frühen Phase zu bedenken lohnt.
Der Muslim fragt hier, wie Gott in den Schoß einer Frau hinabsteigen
konnte. Daraufhin sagt der Christ unter Bezug auf Koran und Evan￾
gelium:
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 155
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“Let us make use of your scripture and of my Scripture; your
scripture says that God cleansed the Virgin Mary above all other
women and the Spirit of God and the Word descended into her;
and my Gospel says, ‘The Holy Spirit will come upon you, and the
power of the Most High will overshadow you’. Here is one voice
in both statements and one meaning. I also know this, that the
Scripture speaks of God’s descending and ascending with our own
(human) quality in mind, that is, figuratively and not literally.
Because, according to the philosophers, descending and ascending
is used with reference to bodies, but God embraces everything and
he is not confined to any place. For one of the prophets said, ‘Who
has measured the sea by his hand and the heavens by his span
and the whole earth by his handful? And indeed, all the waters
are under the hands of God and the heaven in his handful. How
(then) is it probable for the one who holds everything in his hand
to descend and ascend?’” (Sahas 1972: 151ff.)
Man sieht, dass Theodor hier auf die metaphorische Exegese zurück￾
greift, um die wörtliche Bedeutung zurückzuweisen. Das heißt, dass
die Methode der metaphorischen Exegese zur Leugnung empfunde￾
ner Widersprüche in den Heiligen Texten bei Muslimen wie Chris￾
ten gleichermaßen zu einem gängigen Prinzip geworden war.17 Wir
wissen nicht sicher, ob es hier eine echte gegenseitige Beeinflussung
und ein Beeinflusstwerden gab oder ob diese Methode bloß gleich￾
zeitig verwendet wurde. Genauso wenig wissen wir, ob der Begriff
des “Unklaren” (mutašābih) im Sinne von “undeutlich”, der im Koran
mit dem Begriff der Exegese (taʾwīl) verbunden ist, wie in Sure
3:7, der Einflussgeber und die Quelle war, die diese Praxis hat ent￾
stehen lassen. Zu den Anlässen der Offenbarung dieses Verses, die
Muḥammad Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī in seinem Korankommentar nennt,
17 Vgl. meinen Kommentar in Fn. 15 zu Johannes’ Behauptung, dass die Mus

lime den Christen den Vorwurf der Missinterpretation (sūʾ taʾwīl) bzw. des
Missverstehens (sūʾ fahm) dessen, was die Propheten brachten, machen,
wobei er den Begriff der Metapher verwendet.
156 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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zählt jedenfalls, dass er zum Thema der Christen aus Naǧrān herab￾
gekommen sei, als sie zu Muhammad sagten: “Uns reicht es, wenn du
anerkennst, dass Jesus das Wort Gottes und Geist von ihm ist.”18 Ich
bin mir aber sicher, dass dieser Vers zu einem zentralen Vers in den
exegetischen Streitigkeiten wurde, und das nicht nur zwischen den
islamischen Gruppierungen, sondern auch zwischen Muslimen und
Christen, zumal die Polemik der Muslime zunehmend als ein Vorwurf
an die Christen auftrat, sie säßen Missverständnissen auf, weil sie
zwischen Metapher und Wahrheit nicht unterschieden. Ibn Qutaiba
(st. 276/890) sagt zur Verteidigung der Metaphorik gegen jene, die
ihre Existenz im Koran leugnen:
“Was die Metaphorik betrifft, so sind diesbezüglich viele Menschen
in der Exegese fehlgegangen und haben sich darüber in zahlreiche
Richtungen und Sekten aufgespalten. So glauben die Christen mit
Blick auf Aussagen von Jesus, Friede sei mit ihm, in der Bibel wie
‘Ich bete zu meinem Vater’ und ‘Ich gehe zu meinem Vater’ an eine
tatsächliche Gottessohnschaft. Wenn der Messias das nur über sich
selbst, nicht aber über andere gesagt hätte, wäre es ihnen trotz
der Weite der Metaphorik nicht erlaubt, das mit Blick auf Gott –
gepriesen sei er und erhaben über ihre Aussagen – metaphorisch
zu interpretieren. Wie verhält es sich nun aber, da er das an vie￾
len Stellen auch über andere sagt? Dazu zählen seine Aussagen,
als er seinen Mund mit der Offenbarung öffnete: ‘Wenn du Almo￾
sen spendest, soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut,
denn dein Vater, der die verborgenen Dinge sieht, belohnt dich
dafür öffentlich’ und: ‘Wenn ihr betet, dann sagt: Vater unser, der
du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name’ und: ‘Wenn du
fastest, dann wasche dein Gesicht und salbe dein Haar, damit nur
dein Vater davon weiß’.” (Ibn Qutaiba 1973: 103)
18 Siehe meine Analyse zu dieser Frage in: al-Ittiǧāh al-ʿaqlī fī t-tafsīr (1998:
142f.).
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 157
Urheberrechtlich geschütztes Material
Wenn nun jedoch der Muslim fragt: “If Christ was God how did he
eat, drink, sleep and so forth?” Hierzu erklärt Theodor den Begriff
des Wortes im Christentum, wobei er zwischen dem ewigen Wort,
das er implizit mit dem Schöpfungsbefehl “sei!” im Koran vergleicht,
und dem in Fleisch und Blut inkarnierten Wort unterscheidet. Bei die￾
ser Unterscheidung zwischen den beiden Seiten des Wortes kommt
Johannes auf die Frage der Doppelnatur des Messias zu sprechen, was
eine dritte Frage des Muslims über den Tod provoziert, wie hier folgt:
“The pre-eternal Word of God, the one who created the universe,
as my Scripture as well as yours says, the one who became a per￾
fect man from the flesh of the holy Virgin Mary, sensible and
living, this is the one who ate and drank and slept, but the Word
of God did not eat, nor did he drink, nor did he sleep, nor was
he crucified and so on. You should know also that Christ is belie￾
ved to be double with regard to natures, but one with regard to
hypostasis. For the pre-eternal Word of God is one, hypostatically
as well as physically, even after he assumed flesh; because there
was not added a fourth person to the Trinity after the unspeakable
union with the flesh.
The SARAC. What, therefore, (is called) divine (nature) did it die
or does it live?
Reply to him: ‘He did not die’, having confidence in the Scriptural
evidence. For the Scripture says on this: The natural death of men
came upon it, but not that it washed away the memory or that it
subdued it as it happens to us; far from being so. Or let me put it
otherwise. The first man was put to sleep and his rib was extracted
from him.” (Sahas 1972: 153)
158 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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3.5 Die Erschaffenheit der Taten und die Willensfreiheit
des Menschen
Maʿbad al-Ǧuhanī zählt zu den frühesten Vertretern der Qadarīya,
also derjenigen, die an die Handlungsfähigkeit des Menschen und
insofern an seine Wahlfreiheit und Verantwortlichkeit glaubten. Zur
Strafe für seine Ansichten wurde er ca. im Jahre 80/699 auf Befehl
des Kalifen ʿAbd al-Malik Ibn Marwān hingerichtet. Als al-Ḥasan
al-Baṣrī (st. 728) anfing, sich für die Handlungsfreiheit auszuspre￾
chen, ärgerte das ʿAbd al-Malik zwar, aber es lag nicht in seiner
Macht, al-Ḥasan zu töten, so wie er Maʿbad getötet hatte. Der Ärger
des Kalifen rührte daher, dass das Umayyadenkalifat in seiner poli￾
tischen Ideologie auf der Vorstellung des göttlichen Zwangs (ǧabr)
beruhte.19 Man sollte aber erwähnen, dass al-Ḥasan al-Baṣrī sich in
seinem berühmten Sendschreiben20 an den Kalifen zur Beantwortung
von dessen Frage nach dem Ursprung dieser Idee darauf beschränkte,
Gott gegen jene zu verteidigen, die ihm die bösen Taten zuschrie￾
ben, die von ihnen selbst ausgingen. Das Sendschreiben hatte, mit
anderen Worten, also eher ein Freihalten Gottes vom Bösen im Sinn
als die Idee der menschlichen Willensfreiheit.21 Das erklärt, warum
al-Ḥasans Immunität nicht auch für seine Nachfolger galt, die auf den￾
selben Gedankenpfaden wandelten wie er. Dazu zählen der erwähnte
al-Ǧaʿd Ibn Dirham, der die Idee der Erschaffenheit des Korans mit
dem Gedanken der menschlichen Willensfreiheit verband, und der in
Damaskus lebende Ġailān ad-Dimašqī, der im Jahre 743 wegen seiner
Behauptung der menschlichen Willensfreiheit und seiner Leugnung,
dass das Gute und Schlechte auf Gottes Ratschluss zurückzuführen
seien, hingerichtet wurde.
19 Siehe meine Diskussion der Geschichte der Theorie der Willensfreiheit im
Verhältnis zum Dogma der göttlichen Allmacht, die die Umayyaden propagi￾
erten, in: al-Ittiǧāh al-ʿaqlī fī t-tafsīr (1998: 19–23, 27–32).
20 Hrsg. von Muḥammad ʿAmāra als “Risāla fī l-qadar” in seinem Buch: Rasāʾil
al-ʿadl wa-t-tauḥīd (1971).
21 Siehe die Analyse des Sendschreibens in: al-Ittiǧāh al-ʿaqlī fī t-tafsīr (Abū Zaid
1998: 147f.).
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 159
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Man kann also sagen, dass die Idee vom “geschaffenen” Gottes￾
wort, wenn die muslimischen Denker sie auf den Koran anwandten,
um den Unterschied zwischen Islam und Christentum zu betonen, von
Seiten der Staatsmacht auf Ablehnung stieß. Ebenso stieß auch die
Idee der Fähigkeit des Menschen zur Erschaffung seiner Taten und
seiner späteren Verantwortung für sie auf Ablehnung. Daher konzen￾
triert sich der islamisch-christliche Disput über letzteres Dogma dar￾
auf, dass der Muslim Gottes absolute Macht verteidigt und der Christ
die göttliche Verantwortung für die Taten des Menschen zurückweist.
In seiner Antwort an den Muslim sagt Theodor:
“The first man was created with his own power by God and he
sinned, and God expelled him from the state in which he was. (…)
God, then, will prove unjust, according to you, which is not so.
Because if it was God who commanded, as you say, the adulterer
to commit fornication and the thief to steal and the murderer to
kill, these are worthy of praise because they fulfilled the will of
God. In that case your law-givers will prove false and your books
falsified, because they command that the adulterer and the thief
be flogged, although they did the will of God, and the murderer
to be killed, who should rather be honoured, because he (also) did
the will of God.” (Sahas 1972: 143)
Der Muslim versucht aber, den Christen in die Enge zu treiben, indem
er die Sprache darauf bringt, dass Gott erschafft und bildet, was im
Mutterleib ist. Damit will er betonen, dass auch ein uneheliches Kind
ein Geschöpf Gottes ist und die Taten des Menschen nur durch Gottes
Fähigkeit und Willen zustande kommen. Die Antwort des Christen
darauf lautet:
“I find nowhere that the Scripture says that God formed or made
anything after the first week of creation. (…) For all the visible
creation was made during the first week. Thus, God created man
during the first week and commanded him to beget and be begot-
160 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
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ten, saying, ‘Be fruitful and multiply, and fill the earth’ [Gen.
1:28]. And because man had life and had a living seed within him￾
self, a sowing sprang up in his own wife. It is man, therefore, who
begets man, as the Scripture says: ‘Adam became the father of Seth
and Seth of Enosh, and Enosh of Kenan, and Kenan of Mahallel,
and Mahallel of Enoch’ [cf. Gen. 5:3ff.]; and it (the Scripture) does
not say: ‘God created Seth, or Enosh or anyone else’. And from this
we know that Adam was the only one who was created by God
and those after him are begotten and are begetting to the present
time. And this way, by the grace of God, the world is composed,
because even every herb and plant since then produces and is pro￾
duced after the commandment of God: ‘Let the earth put forth
vegetation’ [Gen. 1:11].” (Sahas 1972: 145)
Wir können beobachten, dass die Diskussion hier in Bereiche vor￾
dringt, die die islamischen Theologen bis dahin noch nicht betreten
hatten. Denn die Idee des Eingreifens Gottes in die Welt durch kon￾
tinuierliche Schöpfung ist im Koran auffällig verbreitet, und die Idee
einer Hervorbringung (tawallud) der Taten und Dinge aus sich selbst
heraus war noch nicht Teil der Diskussion über die “Erschaffung der
Taten” geworden. Dazu kam es erst in einer späteren Phase mit der
umfassenden Formulierung der muʿtazilitischen Begrifflichkeiten. Wir
können also mit einer gewissen Sicherheit davon ausgehen, dass diese
Diskussion einen Einfluss auf die Entstehung des muʿtazilitischen
Denkens hatte. Denn die Ašʿariten – die Anhänger von Abū l-Ḥasan
al-Ašʿarī – blieben dabei, die absolute göttliche Macht zu verteidigen,
weil sie meinten, dass das Dogma der Erschaffung der Taten durch
den Menschen und das Gesetz der Kausalität (sababīya) in der Erklä￾
rung der Welt der Absolutheit dieser Macht Abbruch täten. Theodor
beendet die Diskussion mit dem Muslim schließlich, indem er zum
zentralen Thema, der Erschaffung der Taten durch den Menschen,
zurückkehrt:
Die Lektüre des Korans aus christlich-theologischer Sicht 161
Urheberrechtlich geschütztes Material
“Here, you agreed with me that none of us can, without God, stand
or move; and that God does not want us to steal or commit adul￾
tery. If, right now, I get up and leave and steal or commit adultery,
what do you call this, ‘will’ of God, or ‘tolerance’ and ‘forbearance’
and ‘magnanimity’?” (Sahas 1972: 149)
4. Schlussbetrachtungen
Das alles bedarf jetzt keines weiteren Kommentars. Ich hoffe, dass
ich aufzeigen konnte, dass die Polemik produktiv war. Das beweist
besonders die Tatsache, dass die Ereignisse der fitna, bekannt unter
dem Namen “Prüfung (miḥna) der Erschaffenheit des Korans”, die zur
Zeit des abbasidischen Kalifen al-Maʾmūn im Jahre 218/833 began￾
nen, das Ziel hatten, das Dogma der breiten Masse von einer christ￾
lichen Häresie – der Theorie der Ewigkeit des göttlichen Wortes –
zu reinigen, wie es in al-Maʾmūns Schreiben an seinen Statthalter in
Bagdad, Isḥāq Ibn Ibrāhīm, dargelegt ist, das von aṭ-Ṭabarī in seinem
Geschichtswerk wiedergegeben wird.22 Ungeachtet der politischen
Motive, die al-Maʾmūn zu dem Versuch veranlassten, das Dogma der
Erschaffenheit des Korans zum offiziellen Staatsdogma zu machen,
endete die Geschichte mit einer Rückkehr zum Dogma des ewigen
und ungeschaffenen Korans, das zur Zeit des Kalifen al-Mutawakkil
im Jahre 234/849 zum offiziellen Dogma wurde. Mit anderen Wor￾
ten: Über den Koran herrscht seit der Mitte des 3./9. Jahrhunderts
und bis heute das christliche Dogma über das Wort vor. Geschah das
durch Polemik oder Dialog? Die historische Lehre ist die gegenseitige
Befruchtung, und so war die Polemik, wie gesagt, produktiv. Um über
die Bedingungen zu sprechen, die eine Polemik produktiv machen,
bedürfte es einer weiteren Studie. Und es ist diese Frage, mit der wir
uns im Dialog der Kulturen beschäftigen müssen.
22 Für die Details der Geschichte der miḥna siehe: Encyclopedia of Islam (1960–
2005, VII: 2ff.).
162 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
Literatur
Abū Zaid, Naṣr Ḥāmid: al-Ittiǧāh al-ʿaqlī fī t-tafsīr. Dirāsa fī qaḍīyat
al-maǧāz fī l-Qurʾān ʿinda l-muʿtazila (Die rationale Richtung in der
Exegese. Eine Untersuchung zum Konzept der metaphorischen
Ausdrucksweise im Koran bei der Muʿtazila), 4. Aufl., Beirut u.
Casablanca: al-Markaz aṯ-Ṯaqāfī al-ʿArabī, 1998.
ʿAmāra, Muḥammad: Rasāʾil al-ʿadl wa-t-tauḥīd, Kairo: Dār al-Hilāl,
1971.
aš-Šarafī, ʿAbd al-Maǧīd: al-Fikr al-islāmī fī r-radd ʿalā n-naṣāra ilā
nihāyat al-qarn ar-rābiʿ/al-ʿāšir (Das islamische Denken in seiner
Reaktion auf die Christen bis zum Ende des 4./10. Jahrhunderts),
Serie 6, Bd. XXIX, Tunis: ad-Dār at-Tūnisīya li-n-Našr, Kullīyat
al-ādāb wa-l-ʿulūm al-insānīya, 1986.
aṭ-Ṭabarī, Muḥammad Ibn Ǧarīr: Ǧāmiʿ al-bayān fī tafsīr āy al-Qurʾān,
Bde XXVII, XXIX, Kairo: Dār ar-Rayyān li-t-Turāṯ, 1407/1987.
Bobzin, Hartmut: Der Koran. Neu übertragen von Hartmut Bobzin, Mün￾
chen: C. H. Beck, 2010.
Encyclopedia of Islam, Bd. VII (1993), 2. Aufl., Leiden: Brill, 1960–
2005.
Ibn Hišām: as-Sīra an-nabawīya. Hrsg. von Ṭāhā ʿAbd ar-Raʾūf Saʿd.
Bd. I und II, Beirut: Dār al-Ǧīl, 1975.
Ibn Qutaiba: Taʾwīl muškil al-Qurʾān. Hrsg. von as-Sayyid Aḥmad
Ṣaqr. 2. Aufl., Kairo: Dār at-Turāṯ, 1973.
Sahas, Daniel J.: John of Damascus on Islam. The “Heresy of the Ishma￾
elites”. Ed. und Übers. von Texten von Johannes Damascenus und
Theodor Abū Qurra. Leiden: Brill, 1972.

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Debatte / Debate
Keine Zauberformel gegen religiöse Gewalt
Zu den Bedingungen und Möglichkeiten einer
historisch-kritischen Lesart der religiösen Texte
Armina Omerika*
Nicht erst seit dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins
Charlie Hebdo sind die Forderungen nach einer selbstkritischen isla￾
misch-theologischen Aufarbeitung der religiösen Begründung von
Gewalt bis hin zu terroristischen Akten laut geworden. Distanzierun￾
gen von religiös legitimierter Gewalt seitens einzelner Muslime und
muslimischer Organisationen, so deutlich und zahlreich sie in die￾
sen letzten Monaten zu beobachten waren, seien nicht ausreichend,
so die Kritik von außen und zunehmend auch aus dem Inneren der
muslimischen Gemeinschaften. Mehr oder minder sachkundigen
Kommentaren lassen sich verschiedene Lösungsvorschläge für die
Problematik der verheerenden Allianz von islamisch-religiöser Argu￾
mentation und Gewalt entnehmen, die uns in den letzten Monaten in
Form von erschütternden Nachrichten aus Syrien, dem Irak, Nigeria,
Pakistan, Paris, und, viel unmittelbarer, in Gestalt von traumatisier￾
ten Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und aus Afrika erreicht. Die
Rufe nach einem islamischen Martin Luther gehören, trotz der ihnen
zugrundeliegenden Verkennung sowohl der Geschichte und inneren
Verfasstheit des Islam als auch der europäischen Religionsgeschichte
im Allgemeinen (von fehlender Sensibilität gegenüber katholischen
* Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam, Universität Frankfurt.
164 Armina Omerika
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Mitbürgern ganz zu schweigen), zum Standardrepertoire bildungs￾
bürgerlicher Forderungen nach innerislamischen Reformen und sind
daher kaum noch überraschend.1 Sogar der aktuelle Bundesminis￾
ter für Energie und Wirtschaft ließ sich neulich dazu verleiten, das
staatliche Neutralitätsgebot in Sachen Religion für einen Moment zu
vergessen und in einem leidenschaftlichen Plädoyer für eine Einwan￾
derungsgesellschaft den Muslimen unter anderem eine Wunschliste
an Einstellungen und Überzeugungen zu unterbreiten, die es zu ent￾
wickeln und religiös zu begründen gelte (vgl. Gabriel 2015). Zugleich
verschafft sich die außerhalb einer interessierten Fachwelt bis jetzt
wenig wahrgenommene, obwohl intern durchaus vorhandene selbst￾
kritische Reflexion der Muslime nun auch öffentlich Gehör. So plä￾
dierten kürzlich nicht nur säkulare Islamwissenschaftler, sondern
auch manche Verfechter des traditionalistischen Islam offen für die
historisch-kritische Methode in der Koranforschung,2 eine Methode,
die bislang von vergleichsweise wenigen islamischen Theologen in
Deutschland wissenschaftlich glaubhaft praktiziert wird. Nicht selten
sind ihre Vertreter dabei gerade in traditionell ausgerichteten Kreisen
hinter vorgehaltener Hand einer mangelnden islamischen Authentizi￾
tät bezichtigt worden.
Nach wie vor ist es angebracht, vor vereinfachenden und primär
auf die islamischen Lehren abzielenden Erklärungen für die komple￾
xen Entstehungsursachen von Gewalt und Terror zu warnen. Gleich￾
wohl steht die Frage nach religiösen Bezügen und Begründungen
von Gewaltakten, die im Namen des Islam verübt werden, ebenso im
Raum wie die Frage nach der Anziehungskraft von gewaltzentrierten
Islamverständnissen für eine wachsende Zahl von Jugendlichen aus
europäischen Staaten.
Die historische Kontextualisierung der koranischen Offenbarung
beziehungsweise ihrer gewaltbezogenen Passagen und, in einem
etwas geringerem Ausmaß, der prophetischen Tradition (der Sunna)
1 Vgl. z. B. Bittner 2014.
2 Vgl. z. B. http://www.islamiq.de/2015/01/20/islamwissenschaftler-fordern￾
kritische-lektuere/ (letzter Zugriff: 13.2.2015).
Keine Zauberformel gegen religiöse Gewalt 165
Urheberrechtlich geschütztes Material
erscheint, glaubt man den medialen Diskursen der letzten Wochen,
als die vielversprechende Zauberformel, mit der gewaltzentrierte
Deutungen des Islam bekämpft werden sollen. Es ist allerdings mehr
als fraglich, ob eine historische Einbettung und Erklärung des Korans
und der verschriftlichten Sunna ausreicht, um dies zu leisten: In
seiner ideellen Dimension gründet der gewalttätige Islamismus nur
zum Teil auf einer spezifischen, höchst selektiven und ahistorischen
Lektüre der religiösen Texte. Er ist indes vielmehr eine Lesart der
Welt und der Geschichte, eine Interpretation des eigenen Kontextes
und der gegenwärtigen Situation, die, mit religiöser Begrifflichkeit
gerahmt und überfrachtet, heilsgeschichtlich überformt wird. Unter
bestimmten Voraussetzungen resultiert diese Lesart der Welt in Hand￾
lungsanweisungen, die sich in Gewalt entladen können. Salafismus￾
forscher wie Quintan Wictorowicz haben so bereits vor Jahren auf
die entscheidende Rolle der Interpretation des gegenwärtigen Kon￾
textes – einer Lektüre der Welt also – für die unterschiedliche Positio￾
nierung von salafitischen Gelehrten in Bezug auf den militanten ǧihād
hingewiesen (vgl. Wictorowicz 2006: 214). Auch Hans Kippenberg
macht in seinen Untersuchungen der religiös legitimierten Gewalt auf
die heilsgeschichtlichen Rahmungen der Situation aufmerksam, aus
denen sich unter gewissen Voraussetzungen gewaltzentrierte “Hand￾
lungsskripte” ergeben (vgl. Kippenberg 2008).
Die vernachlässigte Hälfte der “doppelten Bewegung”
Im Allgemeinen sind kontextualisierende Zugänge zum Text kein
bahnbrechendes Novum in der islamischen Tradition. Die klassi￾
sche islamische Rechtshermeneutik kennt kontextuell gebundene
Urteilsfindung ebenso wie die klassische Koranexegese die Debatte
über die Allgemeinverbindlichkeit von koranischen Aussagen jenseits
der ursprünglichen, direkten Adressatengemeinde der Offenbarung
kennt. Schon vor Jahrzehnten hatte der geistige Vater der modernen
Koranhermeneutik und gewissermaßen der Begründer der modernen
166 Armina Omerika
Urheberrechtlich geschütztes Material
historisch-kritischen Forschung in der islamischen Theologie, Fazlur
Rahman, von Muslimen eine kritische Auseinandersetzung mit der
Geschichte des Islam gefordert (vgl. Rahman 1965, 1982). Um der
Botschaft des Islam gerecht zu werden, so Rahman, müsse man sich
in eine “doppelte Bewegung” hineinbegeben: Im ersten Schritt ginge
es um eine wissenschaftlich-methodologisch abgesicherte Rekonst￾
ruktion der Entstehungsbedingungen der zentralen Texte des Islam
und eine anschließende Verortung und Erschließung ihrer Bot￾
schaft in ihrem jeweiligen Kontext. In einem zweiten Schritt müsse
aber eine ebenso fundierte Reflexion der Gegenwart erfolgen. Eine
Aktualisierung und Fruchtbarmachung der islamischen Botschaft im
Hier und Jetzt könne sich nur aus dem Zusammenspiel dieser Bewe￾
gungen ergeben. Unter “Aktualisierung” ist dabei kein eindimensi￾
onaler Transfer von interpretativen Lösungen zu verstehen, die vor
Jahrhunderten formuliert wurden, sondern das stete Überprüfen der
Angemessenheit von religiösen Urteilen in einer sich permanent im
Wandel befindlichen Welt. Moderne islamische Theologen, etwa von
der Universität Ankara, haben der doppelten Bewegung Rahmans in
Anlehnung an die moderne Hermeneutik noch eine weitere wesentli￾
che Dimension hinzugefügt: Den Verstehens- und Aktualisierungspro￾
zess können wir nur dann sinnvoll durchführen, wenn wir zugleich
auch unsere eigenen Verstehensbedingungen mitbedenken (vgl. Kör￾
ner 2006).
Auch heute noch stellt sich der erste Teil von Rahmans Doppelbe￾
wegung – die Rekonstruktion und Reflexion des historischen Umfelds
der koranischen Offenbarung und der Praxis des Propheten bezie￾
hungsweise seiner Gemeinde – als ein äußerst schwieriges Unterfan￾
gen dar. Die Forschung zum Frühislam wirft diesbezüglich nach wie
vor mehr Fragen auf, als dass sie Antworten liefert. Die Lücken in
der Quellenlage beziehungsweise die zur Zeit noch bruchstückhafte
Erschließung von Quellen machen eine nicht nur im Rahmanschen
Sinne wissenschaftlich abgesicherte Rekonstruktion der historischen
Umstände der Offenbarung zu einem dringlichen Forschungsdeside￾
rat. Eine solche Rekonstruktion wäre die Grundvoraussetzung einer
Keine Zauberformel gegen religiöse Gewalt 167
Urheberrechtlich geschütztes Material
historisch-kritischen Lesart des Korans, die diesen Namen auch ver￾
dienen würde. Historisch-kritische Ansätze zum Koran können, zum
gegebenen Zeitpunkt jedenfalls, als methodologische und herme￾
neutische Forderungen formuliert werden, so wie das auch Rahman
getan hat; eine diese Forderungen realisierende und umsetzende his￾
torisch-kritische Exegese des Korans lässt sich im Moment allerdings
bestenfalls nur punktuell betreiben.
Es ist aber der zweite Teil der Doppelbewegung, eine reflek￾
tierte Aktualisierung der Offenbarungsbotschaft in der Gegenwart
beziehungsweise ihr Ausbleiben, die im Zusammenhang mit gewalt￾
zentrierten Deutungen von Religion und Welt als noch problema￾
tischer erscheinen. Ein Verständnis der Funktionsweisen heutiger
Gesellschaften ebenso wie unserer Rolle darin erfordert nicht nur
die Wahrnehmung ihrer hochgradigen Komplexität, sondern auch
eine Anerkennung ihrer oftmals nicht auflösbaren Widersprüche.
Es erfordert zudem ein Nachdenken über das Selbst in der Welt,
das sich nicht in eindimensionalen, kollektiven identitären Mus￾
tern erschöpft. Eine Lesart der Welt und der Geschichte aber, die
beide der Komplexität beraubt und zudem auf dem binären Prinzip
“gut” (“wir”) versus “böse” (“sie”) fußt, kann weder selbstreflexiv
sein noch kann sie historische Differenzierung vornehmen. Entspre￾
chend wird der eigene Kontext ahistorisch gedeutet: Jemand, der die
heutigen politischen Entwicklungen in Europa oder die Konflikte im
Nahen Osten beispielsweise mit der Lage der arabischen Muslime im
siebten Jahrhundert identifiziert, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit
auch die religiösen Texte und ihre Botschaften vor diesem Hinter￾
grund interpretieren und durch eine entsprechende Analogie aktu￾
alisieren. Radikale Deutungen fordern ein solches Denken explizit
und antiislamische Vorurteile unterstellen allen Muslimen die prinzi￾
pielle Notwendigkeit eines solches Denkens. Wenn Muslime diesem
Bild nicht entsprechen und eine differenzierte Betrachtungsweise des
Kontextes und der sozialen Komplexität an den Tag legen, werden
sie als „nicht authentisch“ oder repräsentativ beziehungsweise als
„ungläubig“ abgestempelt – nicht nur in diesem Punkt kommen sich
168 Armina Omerika
Urheberrechtlich geschütztes Material
die islamfeindliche und die fundamentalistische Sicht auf den Islam
überraschend nahe.
Heilsgeschichtliche Rahmungen des Kontextes
An genau solchen Punkten setzen religiös gerahmte Ideologien und
ihre Prediger, und nicht nur sie, mit einfachen Deutungsmustern an.
Vor allem bei solchen Jugendlichen, die mit der Widersprüchlichkeit
der Welt schlecht bis gar nicht umgehen können, wird der Bedarf
nach einfachen Einordnungen und nach Bewältigung komplexer poli￾
tischer und sozialer Phänomene und Widersprüche durch das Ange￾
bot der direkten Teilnahme an einer höheren, vermeintlich göttlich
sanktionierten und gerechteren Ordnung bedient. Eine historisch
gewachsene und unter Muslimen von Beginn an heftig umkämpfte
Herrschaftsform wie das Kalifat wird so zum heilsrelevanten religi￾
ösen Symbol, ungeachtet der Tatsache, dass sie keine Erwähnung in
den zentralen Texten des Islam findet. Rechtsurteile, in der islami￾
schen Geistesgeschichte traditionell als Produkte menschlicher Inter￾
pretationstätigkeit verstanden, werden – selektiv und mit Präferen￾
zen für bestimmte gelehrte Vorbilder – als unmittelbare Ausdrücke
des göttlichen Willens kodiert. Utopische Konstrukte des politischen
Islam des vergangenen Jahrhunderts, und hier ganz zentral die Vor￾
stellung eines durchweg gerechten “islamischen Staates”, werden als
alternative Lösungen mit dem gegenwärtigen sozialen Kontext kon￾
trastiert, während simple, in “erlaubt” und “verboten” eingeteilte
Handlungsanweisungen im Lebensalltag als Wege aus der oftmals
krisenhaften persönlichen Situation der Jugendlichen angeboten wer￾
den. Es ist keineswegs gesagt, dass diese Lesarten der Welt in Gewalt
umschlagen müssen: Das soziale Umfeld, persönliche Prädispositio￾
nen und nicht zuletzt die eigenen sozio-biographischen Erfahrungen
spielen eine entscheidende Rolle sowohl bei der Annahme dieser Les￾
arten als auch bei ihrer eventuellen Operationalisierung in Form von
Gewalt.
Keine Zauberformel gegen religiöse Gewalt 169
Urheberrechtlich geschütztes Material
Doch auch die Frage, woher sich diese Weltsichten speisen, kann
nicht ausschließlich mit Verweisen auf Religion und ihr Gewaltpoten￾
tial beantwortet werden. Zweifelsohne erscheinen einem bestimmten
Adressatenkreis, und hier vor allem jungen Menschen, die intellek￾
tuell verflachten religiösen Rahmungen durch radikale Prediger und
Aktivisten als eine authentische Form des Protestes gegen die Miss￾
stände einer als ungerecht empfundenen Welt. Gründe für ein Unge￾
rechtigkeitsempfinden gibt es dabei mehr als genug: Nicht übersehbar
ist inzwischen nicht nur die globale Kluft zwischen Arm und Reich,
sondern auch die zwischen den demokratischen Ansprüchen westli￾
cher Staaten und ihren eigenen innen- und außenpolitischen Realitä￾
ten, etwa solchen, die sich uns in Gestalt des NSU, des NSA oder der
CIA-Foltergefängnisse zeigen; zu groß die Diskrepanz zwischen der
Zelebrierung von freiheitlichen Werten und rechtsstaatlichen Prinzi￾
pien im Inneren einerseits, und der Prinzipien- und Skrupellosigkeit
unserer außenpolitischen Bündnisse andererseits; zu groß der Wider￾
spruch zwischen dem humanistischen Anspruch aufgeklärter bürger￾
licher Gesellschaften und dem zivilisatorischen Versagen der west￾
lichen Welt in den geopolitischen Konflikten der Gegenwart, einem
Versagen, das darüber hinaus von wenig selbstkritischem Bewusstsein
über unsere eigene aktive politische Mitverantwortung in diesen Kon￾
flikten begleitet wird; zu unausgeglichen die Dynamik der medialen
Diskurse bei Würdigungen von europäischen und nicht-europäischen,
weißen und nicht-weißen, muslimischen und nicht-muslimischen,
Opfern von systematischer Gewalt.
Lesarten der Welt, die diese Widersprüche aufzulösen verspre￾
chen, indem sie sie in einfache Gegensätze von “wir” gegen “sie”
umdeuten und indem sie Eindeutigkeit in einer vieldeutigen Realität
versprechen, haben gute Chancen, auf einen fruchtbaren Boden zu
fallen.
Die Folge aus diesen Diskrepanzen, und das ist das Entschei￾
dende, darf aber nicht die Aufgabe des freiheitlich-demokratischen
Anspruchs sein, noch darf dieser Anspruch solchen Lesarten der Welt
weichen, die ihn ablehnen oder gar bekämpfen wollen. Die Folge
170 Armina Omerika
Urheberrechtlich geschütztes Material
muss vielmehr die beharrliche Einforderung seiner konsequenten
Verwirklichung sein, und da müssen sich Muslime wie Nicht-Muslime
gleichermaßen selbstkritisch und mitunter schonungslos mit manch
einem liebgewordenen Selbstbild und manch einem historischen
Mythos auseinandersetzen.
Die Prävention von radikalisierten Lektüren der Welt, die zu
Gewalt führen, lässt sich dabei, allen wohlmeinenden Interventionen
zum Trotz, nicht mit einer wie auch immer verstandenen “Reform des
Islam” bewerkstelligen. Vielmehr sind hier Akteure der politischen
und der historischen Bildung gefragt und die angemahnte Selbstkri￾
tik der Muslime muss ihr Gegenüber in selbstkritischen Reflexionen
anderer gesellschaftlicher Akteure finden. Die Verantwortung, oder
auch nur den Großteil davon, für die politische Aufklärung über die
Widersprüchlichkeiten und Komplexitäten der Welt ausschließlich
auf die Schultern der Muslime, ihrer religiösen Vertreter oder gar
einer islamischen Universitätstheologie zu legen, wäre ebenso verant￾
wortungs- wie aussichtslos.
Literatur
Bittner, Jochen: “Wo bleibt ein Imam der 95 Thesen?” In: Zeit Online,
2.10.2014, URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-10/
islam-koran-auslegen-moderne-gesellschaft
(letzter Zugriff: 13.2.2015).
Gabriel, Sigmar: “Mut zur Einwanderergesellschaft”. In: Der Tagesspie￾
gel, 17.1.2015, URL: http://www.tagesspiegel.de/politik/deutsch￾
land-und-der-islam-mut-zur-einwanderergesellschaft/11242374.
html (letzter Zugriff: 13.2.2015).
Kippenberg, Hans G.: Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeital￾
ter der Globalisierung, München: C. H. Beck, 2008.
Körner, Felix: Alter Text – Neuer Kontext. Koranhermeneutik in der
Türkei heute. Ausgewählte Texte, übersetzt und kommentiert von
Keine Zauberformel gegen religiöse Gewalt 171
Felix Körner SJ. (Religion und Gesellschaft. Modernes Denken in
der islamischen Welt, Bd. I), Freiburg: Herder 2006.
Rahman, Fazlur: Islamic Methodology in History, Karachi: Central Insti￾
tute of Islamic Research, 1965.
— Islam and Modernity: Transformation of an Intellectual Tradition, Chi￾
cago: University of Chicago Press, 1982.
Wictorowicz, Quintan: “Anatomy of the Salafi Movement”. In: Studies
in Conflict and Terrorism, Nr. 29 / 2006, S. 207–239.
Onlinequellen
KNA: “Koran. Viel Raum für Interpretationen”. In: IslamiQ, 21.2.2015,
URL: http://www.islamiq.de/2015/01/20/islamwissenschaftler￾
fordern-kritische-lektuere/ (letzter Zugriff: 13.2.2015).

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Verhinderung und Aufbruch
Jüdische Studien und Jüdische Theologie in Deutschland
Hanna Liss*
Wenn im Folgenden dem Status Quo der universitären Islamischen
Theologie ihr jüdisch(-akademisches) Pendant an die Seite gestellt
werden soll, so geschieht dies nicht ohne Bewunderung dafür und
vielleicht einem Quentchen Neid darüber, wie weit es die muslimi￾
schen Kollegen an mehreren deutschen Universitäten schon gebracht
haben. Nachfolgend wird es daher zunächst einen kurzen Gang durch
die jüdisch-akademische Geschichte geben, um abschließend die
Chancen der universitären Jüdischen Theologie ausloten und benen￾
nen zu können. Mit Blick auf die Etablierung der islamisch-theolo￾
gischen Studien im universitären Raum werden dabei weniger Par￾
allelen als Unterschiede deutlich werden, insofern der Wunsch nach
akademischer Teilhabe von den Juden selbst angestoßen und von der
christlich(-akademischen) Umwelt immer wieder zurückgewiesen
wurde, während für die islamisch-theologischen Studien eigentlich
das Gegenteil gilt.
Die Geschichte der sogenannten
“Wissenschaft des Judentums”
Was wir heute Judaistik oder auch Jüdische Studien nennen, hat im
19. Jahrhundert unter dem programmatischen Banner der sogenann￾
ten Wissenschaft des Judentums begonnen: die Begründer der Wissen-
* Lehrstuhl für Bibel und Jüdische Bibelauslegung, Hochschule für Jüdische
Studien Heidelberg.
174 Hanna Liss
Urheberrechtlich geschütztes Material
schaft des Judentums verstanden darunter die akademische Beschäf￾
tigung mit der jüdischen Traditionsliteratur, d. h. mit der Bibel und
ihrer Auslegungsliteratur, mit Talmud und Midrasch, liturgischer
Poesie sowie mit der religionsgesetzlichen (halachischen) Kommen￾
tar- und Responsenliteratur. 1819 gründete Leopold Zunz (1794–
1886) mit weiteren Mitstreitern den Verein für Cultur und Wissenschaft
der Juden, mittels dessen sie, angeregt durch ihr Universitätsstu￾
dium, neue Impulse für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit
dem Judentum setzen wollten. Zunz’ Bemühen um die Wissenschaft
des Judentums ist nicht zu denken ohne seine Lehrer Friedrich August
Wolf und August Böckh, die die Altertumswissenschaft als eigenes
Fach und nicht lediglich als Zulieferin für die Theologie oder die
Jurisprudenz zu etablieren suchten. Programmatisch forderte daher
auch Zunz die wissenschaftlich objektive Erforschung der nachbibli￾
schen jüdischen Geschichte, Religion und Literatur (Zunz sprach von
neuhebräischer Literatur) und die damit verbundene grundsätzliche
Anwendung historischer Kritik auf alle Bereiche des Judentums. In
seiner Schrift Etwas über die rabbinische Literatur (1818) läuft diese
Forderung faktisch auf die Säkularisierung der Forschungsgegen￾
stände wie auch ihrer forschenden Subjekte hinaus: “Hier wird die
ganze Litteratur der Juden (…) als Gegenstand der Forschung aufge￾
stellt, ohne uns darum zu kümmern, ob ihr sämmtlicher Inhalt auch
Norm für unser eigenes Urtheilen sein soll oder kann” (Zunz 1818: 5
Anmerkung 1). 1832 plädierte Zunz noch weitergehend nicht nur für
das Recht der Juden auf deutsche Staatsbürgerschaft, sondern gleich￾
zeitig für die institutionelle Förderung der Wissenschaft des Judentums
an deutschen Universitäten.
Anders als Zunz, der den Begriff der “Theologie” nur gelegentlich
und nicht programmatisch verwendete und lieber von “doctrinaler”,
“grammatischer” und “historischer” Kritik sprach (Zunz 1818: 7), for￾
derte sein Mitstreiter Abraham Geiger (1810–1874) 1836 die “Grün￾
dung einer jüdisch-theologischen Fakultät [als] ein dringendes Bedürfniß
unserer Zeit” (Geiger 1836: 1–21). Auch für ihn verband sich damit ein
akademischer Anspruch, aber anders als Zunz war für Geiger damit
Verhinderung und Aufbruch 175
Urheberrechtlich geschütztes Material
von vornherein die Ausbildung von Geistlichen verbunden, wodurch
sich Geiger einmal mehr als gelehriger Schüler von Friedrich Schlei￾
ermacher erwies, der kurz zuvor die wissenschaftliche Ausrichtung
der christlichen Theologie vor allem mit Blick auf die geistliche
Gemeindeleitung gefordert hatte (Schleiermacher 1830). Als Antwort
auf die Frage, “Wo sollen nun künftig die Theologen herkommen?”,
forderte Geiger:
“Das einzige Mittel also, wodurch der jüdischen Theologie eine ihr
besonders gewidmete, gedeihliche Pflege zu Theil werden kann,
so daß sie wahrhaft ihre Geltung als Wissenschaft zu behaupten
vermöge, wodurch diese Wissenschaft ihren heilsamen Einfluss
dem Leben angedeihen lassen wird, und wodurch wir gediegene
(…) Theologen erhalten werden, (…) wäre die Errichtung einer,
ganz der jüdischen Theologie und der Lehre derselben, geweihe￾
ten Anstalt, die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät an
irgend einer Universität” (Geiger 1836: 16).
Die Anbindung an die Universität sollte das wissenschaftliche Arbei￾
ten garantieren und damit gleichzeitig auch die Religion und ihre
Ausübung in den Kreis der allgemeinen universitären Bildung aufneh￾
men und von dort her formen:
“Denn gerade diese schöne Blüthe des geistigen deutschen Lebens,
die Universitäten, wo die universelle wissenschaftliche Bildung
ihren Sitz hat (…) wo Lehrer wie Schüler nicht durch ihre ver￾
einzelten Bestrebungen an einseitiger Erstarrung untergehen, wo
nicht, was gerade in der Theologie so leicht sich ereignet, die klös￾
terliche Dumpfheit sich einnistet, nur sie sind geeignet, der jungen
(…) Wissenschaft Gedeihen zu verschaffen.” (Geiger 1836: 18)
Geigers Vorstoß ist vor allem deshalb so bemerkenswert, weil im
Katholizismus gerade zu Beginn und bis zur Mitte des 19. Jh. eine
heftige Debatte darüber geführt wurde, ob die universitäre Ausbil-
176 Hanna Liss
Urheberrechtlich geschütztes Material
dung die richtige Vorbereitung auf den priesterlichen Dienst sei.
Gerade die Säkularisierung der Universitäten und die damit verbun￾
dene staatliche Einmischung ließen auf katholischer Seite massive
Widerstände aufkommen.
1848 beantragte Zunz an der Berliner Universität einen Lehrstuhl
für Jüdische Geschichte und Literatur (die gesamte Korrespondenz ist
abgedruckt in MGWJ 1916: 245–262, 321–347). Zunz’ Antrag ent￾
sprang dabei zum einen dem Bedürfnis einer profanen Wissenschafts￾
kultur, zum anderen aber auch dem Anspruch einer unbedingten
Teilhabe am akademischen Erforschen der eigenen Tradition: Wissen￾
schaft des Judentums als genitivus objectivus wie subjectivus. Die Berliner
Philosophische Fakultät hat in ihrem sehr ausführlichen Ablehnungs￾
schreiben deutlich die für unser Thema markanten Punkte heraus￾
gestellt: Neben der Begründung, man habe zu keiner Zeit “Professu￾
ren für spezielle Lehrfächer” befürwortet, geht es ganz deutlich um
die Zurückweisung eines Lehrstuhls für “Jüdische Theologie”. Zwei
Jahre später wiederholte man diesen Standpunkt in einer Stellung￾
nahme der Fakultät gegen die Errichtung eines Lehrstuhles für rab￾
binische Literatur an der Berliner Universität, die der Verwalter des
Veitel-Heine-Ephraimschen Fideikommisses beantragt hatte, mit der
Begründung, Priester oder Rabbinen zu bilden, sei ein Gegenstand
seminaristischer Anstalten, aber nicht eigentlich der Universitäten,
“am wenigsten einer philosophischen Fakultät, welche (…) die freie
Wissenschaft vertreten” (sic!).
Die in der Folge der Ablehnung einer universitären Wissenschaft
des Judentums gegründeten Rabbinerseminare – das Jüdisch-Theolo￾
gische Seminar in Breslau (1854), die Berliner Hochschule für die Wis￾
senschaft des Judentums (1872) sowie das Berliner Rabbinerseminar für
das Orthodoxe Judentum (1873) – waren kein wirklicher Ersatz für
die universitäre Forschung, und dies vor allem deshalb, weil sie die
zum damaligen Zeitpunkt in Deutschland existierenden Richtungen
des Judentums widerspiegelten: das “positiv-historische Judentum”
(Breslau), die “Reform” und die “Neo-Orthodoxie”, die sich zwar
alle gleichermaßen auf die Wissenschaft des Judentums beriefen, sich
Verhinderung und Aufbruch 177
Urheberrechtlich geschütztes Material
jedoch mit Blick auf die Zielrichtung der Ausbildung ihrer Rabbi￾
natskandidaten in unterschiedlichem Umfang Beschränkungen der
wissenschaftlichen Freiheit auferlegten. Festzuhalten bleibt aber,
dass alle Rabbinerseminare ein Segen für diejenigen Wissenschaftler
waren, die sich der akademischen Beschäftigung mit den hebräisch￾
aramäischen Texten nur in diesem Rahmen überhaupt verschreiben
konnten (der 1867 auf Empfehlung von Franz Delitzsch mit einer kri￾
tischen Edition des Raschi-Kommentars promovierte Abraham Ber￾
liner erforschte die Bibel, den Targum und die Masora und unter￾
richtete seit 1873 am Orthodoxen Rabbinerseminar; der Semitist und
Orientalist Jacob Barth stieß ab 1874 dazu). Heute wird allerdings
gerne vergessen, dass zeitgleich mit der Verbannung der jüdischen
Wissenschaftler aus den Universitäten an verschiedenen Universi￾
täten in Deutschland an den Evangelisch-Theologischen Fakultäten
sogenannte Instituta Judaica entstanden; die wichtigsten waren das
1883 durch den Alttestamentler Hermann Lebrecht Strack gegrün￾
dete Institutum Judaicum Berolinense in Berlin und das 1884 an der
Universität Leipzig gegründete “Institut für Judenmission” (seit 1890
Institutum Judaicum Delitzschianum; benannt nach seinem Begründer
Franz Delitzsch). Erforscht wurden hier neben der semitischen Philo￾
logie auch die nachbiblische Literatur und Geschichte, und dies nicht
einfach so, sondern im Dienste der neutestamentlichen Exegese und
vor allem der Judenmission. Noch 1957 wurde ein solches Institu￾
tum Judaicum in Tübingen durch den Neutestamentler Otto Michel
gegründet. Man muss allerdings nicht ohne Verwunderung zur Kennt￾
nis nehmen, dass man sich an den hier gegründeten Instituten die bib￾
lischen und nachbiblischen, neuhebräischen Schriften der Juden als
akademische Untersuchungsobjekte für die eigenen konfessionell moti￾
vierten Zwecke angeeignet hat. Bis in die sechziger Jahre des letzten
Jahrhunderts gab es also nicht nur keine akademische Wissenschaft
des Judentums an deutschen Universitäten; es gab eine christliche
Wissenschaft des Judentums an deutschen Universitäten. Noch 1998
präsentierte sich das evangelische Institutum Judaicum Delitzschianum
als “Wiederaufleben der Wissenschaft des Judentums” (in: Siegert /
178 Hanna Liss
Urheberrechtlich geschütztes Material
Kalms 1998: 221). Und bis heute wird in Tübingen “neben der heb￾
räischen Philologie und modernen hebräischen Literatur (…) die
Geschichte, Religions- und Kulturgeschichte des Judentums in Mittel￾
alter und Neuzeit”1 gelehrt, ein akademisches Programm, wie es Zunz
immer vorgeschwebt hat. Bis heute dürfen aber diese hier angesiedel￾
ten Lehrstühle nur von evangelischen TheologInnen besetzt werden!
Dies nun ist immerhin für die Islamischen Studien/Islamwissenschaft
nicht vorstellbar, obwohl auch die Islam- und Orientwissenschaften
zu guten Teilen auf die Initiative interessierter (wiederum protestan￾
tischer) Theologen sowie auch jüdischer Wissenschaftler zurückgin￾
gen. Aber die Vertreter dieser Fächer betrieben ihre Arbeit doch mehr
oder weniger ohne Muslime, und in seiner Text-Orientierung wurde
das Fach von vornherein an die Philosophische Fakultät angebunden.
So konnte sich eine universitäre akademische Tradition entwickeln,
an die die muslimischen WissenschaftlerInnen heute anknüpfen kön￾
nen.
Die Geschichte der Judaistik oder Jüdischen Studien und
der Jüdischen Theologie
Eine von den evangelischen Fakultäten unabhängige akademische
Beschäftigung mit dem Judentum an deutschen Universitäten als
“Judaistik/Jüdische Studien” mit philologisch-, historisch-, kultur￾
oder literaturwissenschaftlichem Profil gibt es erst nach dem Massen￾
mord an den europäischen Juden seit den Gründungen der Institute
für Judaistik in Berlin (1966), Köln (1966) und Frankfurt (1970). Mit
wenigen Ausnahmen aus den Anfangszeiten (Jacob Taubes; Marianne
Awerbuch), lehrten an diesen zumeist im Rahmen der Philosophi￾
schen Fakultät angesiedelten Institutionen überwiegend nicht-jüdi￾
sche Gelehrte, viele von ihnen in Israel ausgebildet, die die Vielfalt
des Judentums in seinen historischen Dimensionen wie auch in der
1 http://www.ev-theologie.uni-tuebingen.de (letzter Zugriff: 12.2014).
Verhinderung und Aufbruch 179
Urheberrechtlich geschütztes Material
Gegenwart akademisch erforschten und lehrten und mit ihrer Arbeit
einen unschätzbaren Beitrag nicht nur im Rahmen der deutschen For￾
schungslandschaft, sondern auch im Verbund mit der internationalen
Erforschung der Jewish Studies in den USA und in Israel leisteten. Die
vor allem Ende der achtziger Jahre mit harschen Worten geführten
Auseinandersetzungen um das Fach, seine Lehrinhalte, seine Bezeich￾
nung, aber auch die Beteiligten, Lehrende wie Lernende (vgl. Oswald
1991: 45–71; Awerbuch 1996: 15–24), konnten nichts daran ändern,
dass das Fach heute unter “Judaistik” und/oder “Jüdische Studien”
im Kanon der philologischen Disziplinen an mehr als zehn deutschen
Universitäten mit ein oder mehreren Lehrstühlen sehr gut etabliert
ist.2
1979 wurde die Hochschule für Jüdische Studien (heute: Hoch￾
schule für Jüdische Studien Heidelberg) durch das Direktorium des
Zentralrats der Juden in Deutschland gegründet und startete unter
der Leitung des gebürtigen Berliners und 1947 an der Yeshiva Uni￾
versity (New York) zum Rabbiner ordinierten Leon A. Feldmann
(1921–2008) mit sechzehn Studierenden. Obwohl die Hochschule
“denominations-neutral” sein sollte, sollte sie gleichzeitig weniger
eine jüdisch-akademische Forschungsstätte im Zunz’schen Sinne dar￾
stellen, sondern eine Ausbildungsstätte für das kultische Personal,
d. h. für Rabbiner, Kantoren und Religionslehrer, sein, ein Anspruch,
dem sie aus mehreren Gründen nie gerecht werden konnte: Zum
einen studierten an der Hochschule in den ersten Jahren hauptsäch￾
lich christliche Studierende (viele von ihnen sogar Theologiestuden￾
tInnen), und die wenigen jungen Juden und Jüdinnen interessierten
sich auch nicht für die Religion ihrer Väter (von Anfang an standen
auch bei dem 1968 gegründeten Bundesverband jüdischer Studenten
in Deutschland e.V. (BJSD) Israel und der Nahostkonflikt im Brenn￾
punkt des Interesses). Zum anderen wurde die Hochschule vor allem
wegen der von den Lehrenden und Studierenden schlussendlich doch
durchgesetzten universitär-akademischen Zielsetzung (in Zusam￾
2 Vgl. www.judaistik.eu (letzter Zugriff: 12.2014).
180 Hanna Liss
Urheberrechtlich geschütztes Material
menarbeit mit der Universität Heidelberg Ruperto Carola) und dem
damit verbundenen Verzicht auf die Rabbinerausbildung faktisch in
die Grabenkämpfe der Denominationen hineingezogen. Und obwohl
einige der heute in Deutschland und in der Schweiz amtierenden
orthodoxen Rabbiner ein akademisches Studium an der Hochschule
für Jüdische Studien absolviert haben – zu Rabbinern wurden sie erst
nach einer Ausbildung an einer klassischen Yeshiva. Insbesondere das
sogenannte “orthodoxe Judentum” tut sich bis heute schwer, sich auf
den für die wissenschaftliche Erforschung ihres Gegenstandes not￾
wendigen Prozess der Selbstdistanzierung einzulassen. Überdies ist
es für die orthodoxe Seite bis heute undenkbar, dass Rabbiner von
Frauen (gleich welcher religiöser Denomination) und/oder von nicht￾
orthodoxen Männern in Bibel und Talmud ausgebildet werden. Das
liberale Judentum bildete wiederum seine RabbinerInnen und Kan￾
torInnen seit 1999 am Abraham-Geiger-Kolleg in Zusammenarbeit
mit der Universität Potsdam aus. Vor diesem Hintergrund konzent￾
rierte sich die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (mit der￾
zeit zehn Lehrstühlen) auf die akademische Ausdifferenzierung mit
gegenwärtig acht BA- und MA-Programmen sowie bereits seit dem
Wintersemester 2001/02 dem Studiengang Jüdische Religionslehre mit
Abschluss Staatsexamen, wodurch zum ersten Mal auch die Möglich￾
keit besteht, dass staatlich geprüfte jüdische Religionslehrer*innen in
den Staatsdienst übernommen werden können.
Seit dem Wintersemester 2013/14 (und nicht zu denken ohne
die unermüdliche Anstrengung des Rabbiners Prof. Walter Homolka)
gibt es an der Universität Potsdam und damit erstmals an einer deut￾
schen Universität das Fach Jüdische Theologie (mit insgesamt neun
unterschiedlich finanzierten Lehrstühlen), das sich an der Philoso￾
phischen Fakultät als “School of Jewish Theology” präsentiert (warum
keine deutsche Bezeichnung gewählt wurde, wird nicht erläutert).
Obwohl die School of Theology auf ihrer Website einen grundsätzli￾
chen Unterschied zwischen “Judaistik/Jüdischen Studien” (auch hier
wird noch einmal unterschieden, was aber der akademischen Land￾
schaft heute nicht wirklich entspricht) und “Jüdischer Theologie”
Verhinderung und Aufbruch 181
Urheberrechtlich geschütztes Material
macht, insofern die “philologisch-historisch arbeitende Disziplin”
und die “konfessionelle Bindung” und das “Berufsziel des geistlichen
Amtes: Rabbiner(-in)/Kantor(-in)” gegeneinander aufgewogen wer￾
den, handelt es sich bei dem Studiengang faktisch um einen philo￾
logisch-historisch-kulturwissenschaftlichen Studiengang bei dem,
gleich allen anderen Studiengängen der Judaistik/Jüdischen Studien,
die wesentlichen akademischen Sprach- und Fachkompetenzen an
alle Studierende vermittelt werden. Die Besonderheit liegt darin, dass
ein(-e) “Studierende(-r) jüdischer Religionszugehörigkeit (…) das
Fach auch mit dem Schwerpunkt liberales Rabbinat, konservatives
Rabbinat (Masorti) sowie Kantorat belegen [kann]”3. In der Betonung
der Ausbildung des “geistlichen Amtes” steht die Potsdamer School
of Jewish Theology in der Tat dem Namensgeber des Kollegs Abraham
Geiger weitaus näher als Leopold Zunz; gleichwohl insistiert man auf
einer soliden akademischen Ausbildung in den Jüdischen Studien,
und daher ist die in Potsdam gewählte Struktur der Integration der
Jüdischen Theologie in die Philosophische Fakultät die aus meiner
Sicht einzig richtige Entscheidung, auch im Hinblick auf die über
Potsdam hinaus durchaus anzustrebende Etablierung einer Jüdischen
Theologie an deutschen Universitäten.
Es ist sehr gut, dass der Ausbildung konservativer und liberaler
RabbinerInnen/KantorInnen in Deutschland eine solche akademische
Ausbildung vorausgeht, und es wäre wünschenswert, wenn auch die
Kandidaten für das orthodoxe Rabbineramt am Rabbinerseminar für
das orthodoxe Judentum4 die School of Jewish Theology für sich entde￾
cken könnten. Die Chancen dafür stünden vor allem dann gut, wenn
es der Philosophischen Fakultät Potsdam gelänge, fachlich hoch
qualifizierte jüdische Akademiker unterschiedlichster persönlicher
Ausrichtungen und Denominationen für die Besetzung der einzelnen
Lehrstühle zu gewinnen. Hier ist noch dahingehend Überzeugungs￾
arbeit zu leisten, dass eine akademische Beschäftigung mit den für
3 http://www.juedischetheologie-unipotsdam.de/index/ueberblick.html (letz

ter Zugriff: 12.2014).
4 Vgl. www.rabbinerseminar.de (letzter Zugriff: 12.2014).
182 Hanna Liss
Urheberrechtlich geschütztes Material
das Judentum grundlegenden hebräischen und aramäischen Texten
der Ausübung des orthodoxen Rabbineramtes nicht nur nicht scha￾
det, sondern schlussendlich der Sache dient, wie dies auch durchaus
schon in den USA und Israel zu beobachten ist.
Ausblick
Es hat sich gezeigt, dass es ein sinnvolles Konzept darstellt, der Aus￾
bildung gemeindlicher Funktionsträger eine akademisch-theologische
Ausbildung voranzustellen. Am besten geschieht dies im Rahmen
einer Philosophischen Fakultät; es kann aber auch, wie im Falle der
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, im Verbund mit ihr
sein. Jüdische Theologie findet damit als Teil der philologisch-, his￾
torisch-, kultur- oder literaturwissenschaftlichen Jüdischen Studien
ihren Platz.
Jüdische Theologie so zu definieren, bedeutet, dass für jüdi￾
sche Lehrende und Lernende die akademische Arbeit gleichzeitig das
bewusste, begründete und nach außen wissenschaftlich verantwor￾
tete Nachdenken über das (eigene!) religiöse Erbe, d. h. die heiligen
Schriften und ihre Rezeptionsgeschichte ist. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger. Inhaltlich ist damit noch nichts gesagt. Aber in Auf￾
nahme des Votums von Zunz kann das wissenschaftlich verantwor￾
tete Nachdenken nicht ohne Philologie und Geschichte betrieben
werden. So, wie sich schon die mittelalterlichen jüdischen Gelehr￾
ten in Spanien und Westeuropa den damaligen arabischen und latei￾
nischen Wissenschaftstraditionen gestellt haben, so sollte auch das
heutige Judentum sich dem Wissenschaftsdiskurs stellen und diesen
Maßstab an die hebräisch-aramäische Texttradition anlegen. Theolo￾
gie ist damit nicht ohne Philologie und Geschichte zu haben, um nur
diese beiden pars pro toto für alle anderen geisteswissenschaftlichen
Arbeitsbereiche zu nennen.
Aus der Perspektive der akademischen Wissenschaftstradition,
an der dann jüdische wie nichtjüdische Lehrende und Lernende teil-
Verhinderung und Aufbruch 183
Urheberrechtlich geschütztes Material
haben, leisten darin die Forschungen zur Bibel, zum Talmud, zur Aus￾
legungs- und Rechtsliteratur, zur Kunst und Literatur ihren allgemein
anerkannten philologisch-historischen Beitrag gleich jeder ande￾
ren universitären Disziplin. Aber aus der Perspektive der jüdischen
Rezipienten dieser Glaubens- und Lebenstradition werden diese zur
Theologie im oben genannten Sinne, wenn philologisch-historische
Forschungen Einfluss auf die jüdische Gruppe nehmen. Dies deshalb,
weil eine philologisch-historische Forschung die Selbstgewissheit einer
Tradition oder einer Kultur in Frage stellen kann: Denn auch, wenn
der Zweck der wissenschaftlichen Forschung beispielsweise an der
Bibel dies nicht intendiert – ihr Zweck liegt einzig und vorbehaltlos
in der wissenschaftlichen Erforschung der Texte – so kann doch die
Multiplizität der damit verbundenen Rezeptionsweisen grundsätzlich
auch eine religions- und traditionskritische Distanzierung beinhalten,
der es sich dann zu stellen gälte. Davon sind wir in Deutschland auf
der jüdischen Seite durchaus noch weit entfernt. Vieles, was heute
historisch geklärt ist, wird in Teilen der Judenheit (in den Gemein￾
den, aber auch noch bei jüdischen Studierenden) auf Ablehnung sto￾
ßen, weil hier die Bereitschaft zur Selbstdistanzierung von liebge￾
wordenen Überzeugungen (noch!) nicht vorliegt und manchmal auch
das intellektuelle Wagnis, neue Interpretationsspielräume auszuloten,
noch nicht eingegangen wurde.
Sind wir also bei den Jüdischen Studien im akademischen Raum
der Universität und somit denominationsübergreifend, so beginnt mit
der sich an das wissenschaftliche Studium anschließenden Ausbildung
zum Rabbinat und Kantorenamt die denominationale Ausdifferenzie￾
rung für die Praxis: das orthodoxe Rabbinerseminar auf der einen
Seite, das Zacharias Frankel College und das Abraham-Geiger-Kolleg
auf der anderen. Dort mehr klassischer und vertiefender Diskurs des
talmudischen Religionsgesetzes und hier (gemäß dem Anspruch der
religiösen Reform) mehr Predigtlehre und Religionspädagogik.
So stellen wir daher abschließend fest, dass sich die Etablierung
der Islamischen und Jüdischen Theologie an deutschen Universitä￾
ten vor einem deutlich unterschiedlichen Hintergrund vollzogen hat.
184 Hanna Liss
Urheberrechtlich geschütztes Material
Gemeinsam ist beiden Theologien jedoch als Aufgabe gegeben, die
Deutungshoheit über die eigene religiöse Tradition nach außen durch
die universitäre Einbindung (zurück) zu gewinnen und nach innen zu
verteidigen.
Literatur
Awerbuch, Marianne: “Judaistik ohne Juden. Peter Schäfers Attacke
gegen die ‘Jüdischen Studien’”. In: Menora. Jahrbuch für deutsch￾
jüdische Geschichte, Nr. 7 / 1996, S. 15–24.
Geiger, Abraham: “Die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakul￾
tät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit”. In: Wissenschaftliche
Zeitschrift für jüdische Theologie, Nr. 1 / 1836, S. 1–21.
Geiger, Ludwig: “Zunz im Verkehr mit Behörden und Hochgestell￾
ten”. In: MGWJ, Nr. 60 / 1916, S. 245–262, 321–347.
Oswald, Niko: “Judentum als Gegenstand von Wissenschaft. Eine Kri￾
tik des Faches Judaistik”. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegen￾
wart, Nr. 8 / 1991, S. 45–71.
Schleiermacher, Friedrich: Kurze Darstellung des theologischen Stu￾
diums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Ausg., Berlin: Real￾
schulbuchhandlung, 1830.
Siegert, Folker / Kalms, Jürgen U.: Internationales Josephus-Kolloquium
Münster 1997. Vorträge aus dem Institutum Judaicum Delitzschia￾
num, Münster: LIT, 1998.
Zunz, Leopold: “Etwas über die rabbinische Literatur”. In: Gesammelte
Schriften. Hrsg. von dems. Bd. I, Hildesheim / New York: Olms,
1976 (Erstausg. 1875/76, Erstausg. des Aufsatzes 1818), S. 1–31.
Onlinequellen
Homepage des Verbands der Judaisten in Deutschland e.V. URL:
www.judaistik.eu (letzter Zugriff: 12.2014).
Verhinderung und Aufbruch 185
Homepage des Rabbinerseminars zu Berlin. URL: www.rabbinersemi￾
nar.de (letzter Zugriff: 12.2014).
Homepage der School of Jewish Theology Potsdam. URL: http://
www.juedischetheologie-unipotsdam.de/index/ueberblick.html
(letzter Zugriff: 12.2014).
Homepage der evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard Karls
Universität Tübingen. URL: http://www.ev-theologie.uni-tuebin￾
gen.de (letzter Zugriff: 12.2014).

Urheberrechtlich geschütztes Material
Starke Subjekte
Zum Positionspapier
“Islamische Theologie in Deutschland”
Tobias Specker∗
Es wäre ein harmloser Geist, der die neu entstehende islamische
Theologie mit einem Pflänzchen vergleicht, das soeben das Erdreich
der Akkreditierungsverfahren durchbrochen hätte und nun aus einer
Wurzel traditioneller Verortung und gut genährt durch den sanften
Regen finanzieller Zuwendungen zu akademischen Früchten bedäch￾
tig heranwüchse. Zum Wachsen ist wenig Zeit, über den Wurzelstock
besteht noch keine durchgreifende Einigkeit und es zupft und rupft
doch recht heftig an dem neuen akademischen Gewächs, von dessen
Früchten so viele profitieren wollen. Das Positionspapier, das 12 Leh￾
rende der islamischen Studien an der Universität Frankfurt verfasst
haben, entwickelt deswegen die eigene Methodik und den Gegen￾
stand der “Islamischen Theologie in Deutschland” auch nur indirekt.
Es hat sich entschieden, die Selbstbestimmung durch die Auseinan￾
dersetzung mit den vielfachen Bezügen vorzunehmen, in denen das
neue Fach steht: Diese Bezüge, die Rollenerwartungen, methodische
Vorgaben, disziplinäre Abgrenzungen und institutionelle Rahmenbe￾
dingungen in sich vereinen, werden als “Faktoren” gefasst, die ein
“Spannungsfeld” (S. 8) umreißen, in denen die “islamisch-theologi￾
schen Studien” stehen. Von vorneherein geht es also um mehr als
um Ideengeschichte und Wissenschaftstheorie – es geht um eine Ins￾
titutionendynamik, in der sich theologisches Denken sehr bewusst in
Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Kontext bestimmt,
* Stiftungsprofessur Katholische Theologie im Angesicht des Islam, Philoso

phisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen.
188 Tobias Specker
Urheberrechtlich geschütztes Material
wenn auch oft gerade dadurch, dass es gesellschaftlichen und insti￾
tutionellen Erwartungen gegenüber die Eigenständigkeit betont. Das
Positionspapier macht dies deutlich, indem es zwischen der “islami￾
schen Theologie” als Inhalt der universitären Lehre und den “isla￾
misch-theologischen Studien” als den “universitären Einrichtungen,
innerhalb derer diese u. a. betrieben wird” (S. 7 Fußnote 1) unter￾
scheidet. Die leitende Perspektive des Positionspapieres scheint es mir
zu sein, aus den differenzierenden Abgrenzungen in den institutionel￾
len Bezügen der islamisch-theologischen Studien heraus die Eigenart
der “Islamischen Theologie” zu erarbeiten. Methodisch gefasst: Aus
der Reflexion der “bisherigen Erfahrungen mit dem Aufbau der isla￾
misch-theologischen Studien” heraus werden “Haltungen zu Fragen
von Wissenschaftlichkeit und Positionalität der Islamischen Theolo￾
gie” (S. 8) formuliert. Soziologie und gesellschaftliche Analyse sind
damit von vorneherein in die leitende Perspektive der theologischen
Reflexion integriert und keine bloßen Hilfen zur Umsetzung binnen￾
theologischer Erkenntnisse – dies sei allen zur Freude oder Warnung
gesagt, die von einer theologischen Ortsbestimmung zunächst eine
philosophisch-systematische Verortung erwarten.
Die Bezüge, anhand derer die Islamische Theologie in Deutsch￾
land erörtert wird, werden nun in acht Faktoren ausbuchstabiert. Sie
sprechen sehr unterschiedliche Ebenen an, die man meines Erachtens
in drei Kategorien fassen kann: Akteure, auf die die islamisch-theo￾
logischen Studien reagieren (muslimische Religionsgemeinschaften,
Studierende, nichtmuslimische Öffentlichkeit, Politik), institutionelle
Rahmenbedingungen, die ihr als Anforderungen vorgegeben sind
(Universitätsbetrieb, Bekenntnisorientierung) und inhaltliche Bezugs￾
größen (nichtmuslimische Islamforschung, Theologie als Wissen￾
schaft). Die Unterschiedlichkeit der Bezüge hat zur Folge, dass auch
die Sprachformen des Positionspapieres unterschiedlich sind: Oftmals
formuliert es analytisch-deskriptiv, mitunter auch positionierend￾
appellativ, schließlich auch religiös-begründend.
Inhaltlich ist das “Spannungsfeld”, in dem die Islamische Theo￾
logie steht, wesentlich durch die Zuordnung von “Wissenschaftlich-
Starke Subjekte 189
Urheberrechtlich geschütztes Material
keit und Positionalität” (S. 8) charakterisiert. Sehr klar wird, was die
Autorinnen und Autoren unter “Wissenschaftlichkeit” verstehen: Die
“wissenschaftliche Wahrheitssuche” besteht in der Ergebnisoffenheit
der Forschung, der “kritischen Auseinandersetzung mit verschiede￾
nen Wissenschaftstraditionen” und der “Offenlegung der eigenen
Prämissen” (S. 10). In dieser Weise findet die Theologie ihren legi￾
timen Platz an der Universität, zugleich werden “autoritäre Bindun￾
gen” (S. 14) abgelehnt und die “funktionale Differenzierung zwischen
den Aufgabenbereichen einer an der Universität verankerten Wissen￾
schaft und denjenigen einer Religionsgemeinschaft” (S. 22) betont.
Die Universität wird ganz im Sinne diskursethischer Ideale als “Raum
für Debatten, die jenseits von Diskurshegemonien geführt werden
können” (S. 17) verstanden und von ihr wird sehr deutlich erhofft,
dass sie “die freie Entfaltung dieser Disziplin als einer unabhängigen
Wissenschaft, die sich wissenschaftsimmanent und fernab von hierar￾
chisch bedingten und fremdbestimmten Einflussnahmen entwickeln
kann” (S. 17) ermöglicht. Die “Wissenschaftlichkeit” ist also beileibe
nicht nur eine methodische Orientierung, sondern ein Diskursideal,
das es den islamisch-theologischen Studien ermöglicht, ihren Frei￾
raum gegenüber der Gefahr unterschiedlicher Funktionalisierungen
zu behaupten.
Schwieriger ist demgegenüber die “Positionalität” zu greifen.
Meines Erachtens wird die “Positionalität”, die gleichsam den Frank￾
furter Vorschlag zum Verständnis der theologischen Bekenntnisbin￾
dung darstellt, in drei verschiedenen Hinsichten gesucht:
Sie kommt erstens in einem inhaltlichen religiösen Grundkonsens
zum Ausdruck: “Prinzipiell lässt sich aus der islamischen Tradition
heraus das Bekenntnis zum Islam als auf drei Grundsätzen beruhend
begründen: der Glaube an die Einheit Gottes (tawḥīd), die Prophetie/
Offenbarung (nubuwwa) und das Jenseits (maʿād).” (S. 13) Es ist wohl
die Akzeptanz dieses ‟Glaubensgrundkonsenses” (S. 13), der das Fun￾
dament der “Positionalität” abgibt. Von ihm wird jedoch auch sofort
gesagt, dass er “Raum für die diskursive Auseinandersetzung über
Subthemen, Details und Inhalte der genannten Glaubensprinzipien”
190 Tobias Specker
Urheberrechtlich geschütztes Material
schaffe und es über ihn hinaus eine ‟reiche und heterogene diskursive
Tradition” gebe, “die als Grundlage und Beleg sowohl für eine endo￾
gene innerislamische Dynamik, als auch für interkonfessionelle Aus￾
tauschprozesse betrachtet werden kann.” (S. 13) Das Ziel dieses Sat￾
zungetüms ist klar: Der Konsens ist kein “Mecca locuta, causa finita”,
sondern der Anfang der Debatte. Abgesehen davon, dass das Posi￾
tionspapier hier in den sprachlichen Charme von EU-Antragsprosa
verfällt, bleibt der Modus der Verbindlichkeit dieser Grundprinzipien
gegenüber dem Einzelnen – vielleicht bewusst – offen. Unübersehbar
ist diesem Absatz das “Recht auf Selbstbestimmung und persönliche
Autonomie von Wissenschaftlern” (S. 13) vorangestellt.
Die “Positionalität” nimmt zweitens auch die Verortung der isla￾
mischen Theologie in gemeinschaftlichen Formen des Glaubens in
den Blick. Sehr überzeugend ist die Warnung, die gemeinschaftliche
Verortung nicht zu schnell und zu ausschließlich mit Moscheever￾
einen und Dachverbänden zu identifizieren. Denn diese sind “spezi￾
fisch deutsche Ausdrucksformen von muslimischer religiöser Verge￾
meinschaftung” (S. 18) und können verhindern, dass die Islamische
Theologie “Akteurin der globalen islamischen theologischen Diskurs￾
landschaft” (S. 10) wird. Zu Recht weisen die Autorinnen und Auto￾
ren darauf hin, dass die christlichen Kirchen trotz ihrer “starken ins￾
titutionellen Anbindung an den deutschen Staat nach wie vor über
ihre globalen und transnationalen Vernetzungen und ein Wirkungs￾
feld verfügen, das ihnen einen Anschluss an das globale Christentum
ermöglicht” (S. 19). Allerdings ist das Ziel der Argumentation nicht
allein, die Verortung der Theologie in der Glaubensgemeinschaft
global zu weiten, sondern auch, eine Anbindung an eine institutio￾
nalisierte Form religiöser Vergemeinschaftung möglichst gering zu
halten. Einer “Bekenntnisbindung, die analog zu den von christli￾
chen Theologien etablierten Formen der Bindung an institutionali￾
sierte Instanzen verlaufen würde” (S. 18) wird damit klar eine Absage
erteilt. Da nun ebenfalls abgelehnt wird, dass die Universitäten “zum
Ort der ‘Ersatzreligionsgemeinschaft’ werden” (S. 21), bleibt die
Beziehung des einzelnen Theologen zu einer möglichen Gemeinschaft
Starke Subjekte 191
Urheberrechtlich geschütztes Material
von Glaubenden bewusst vage. Letztlich, so lese ich das Positionspa￾
pier, ist der Ort der Gemeinschaft eine eher virtuelle “Relevanz des
Forschungsgegenstandes und der erzielten Ergebnisse für die Kons￾
tituierung von muslimischer Subjektivität” (S. 16). Denn hier wird
bedacht, dass sich aus
“einem muslimischen Blickwinkel heraus, einer Innenperspektive
also, (…) Fragen an die islamischen Quellen, Traditionen und an
die islamische Geschichte [ergeben], die einen Rückbezug der
gefundenen Antworten auf die persönliche Ebene und Lebensge￾
staltung implizieren können” (S. 16).
Dieser Satz ist nicht ohne Grund schwer verständlich: Er möchte
einerseits betonen, dass die Forschung vorrangig Fragen stellt und
will andererseits die Relevanz möglicher Antworten in den Konjunk￾
tiv setzen. In doppelter Weise wird so eine mögliche Normativität
theologischer Aussagen suspendiert. Der Ort der Gemeinschaft, das
zeigt dieser Satz sehr klar, ist das Bewusstsein des einzelnen Theolo￾
gen um einen möglichen Einfluss seiner Aussagen auf die Lebensge￾
staltung des muslimischen Gläubigen. Die Verortung der Theologie
in der Glaubensgemeinschaft wird zum (konjunktivischen) Bewusst￾
seinsakt des einzelnen Theologen.
Nun kann man die deutliche Betonung, dass die christliche Form
einer kirchlich verfassten Bekenntnisbindung nicht auf die islami￾
sche Theologie übertragbar ist, und die Ablehnung der Normativität
theologischer Aussagen durchaus sympathisch – und den Bedingun￾
gen von Religion in der Moderne sogar angemessen – finden. Doch
bringt sie meines Erachtens spezifische Folgeprobleme mit sich. So,
wenn das Positionspapier formuliert: “Die höchste Autorität im Islam
geht nicht von Personen oder institutionalisierten Autoritäten, son￾
dern vom Koran und der Sunna als den zentralen normativen Quellen
aus.” (S. 14) Verwechselt, so müsste man fragen, das Positionspapier
hier nicht in zu einfacher Weise die Frage nach der Hierarchie religi￾
öser Quellen mit der feststellbaren Verbindlichkeit ihrer Auslegung?
192 Tobias Specker
Urheberrechtlich geschütztes Material
Wird die Freiheit der Auslegung nicht durch eine hermeneutische
Unterbestimmung erkauft? Umgeht es mit den eingängigen Abgren￾
zungen nicht das Problem, als “islamische Theologie” bei aller Plura￾
lität der islamischen Tradition doch sagen zu müssen, was sich legi￾
timerweise noch als “islamisch” verstehen kann und was nicht? Die
Frage nach der Verbindlichkeit der Auslegung durch den Verweis auf
die Verbindlichkeit der Quellen zu beantworten, ermöglicht zwar die
Wertschätzung der vielfach benannten “Pluralität” der islamischen
Tradition, droht ihr aber jede Kontur zu nehmen.
Wenn es also in bewusster Absetzung von dem christlichen Ver￾
ständnis nicht die Glaubensgemeinschaft ist, die für die Positionalität
der Theologie aufkommt, die Positionalität zugleich aber aufrecht￾
erhalten werden soll, damit sich die Islamische Theologie nicht in
eine erweiterte islamische Religionswissenschaft auflöst, so muss für
die Positionalität ein anderer Ort gefunden werden. Dieser Ort wird
meines Erachtens in einer dritten Hinsicht – in der Annahme eines
spezifisch islamischen Wissenszusammenhangs – gefunden. Denn es
ist, so das Positionspapier, die Aufgabe der Islamischen Theologie
“eine Neubegründung der islamischen Wissensordnung in universi￾
tärer Umgebung [zu] reflektieren” (S. 11) und “moderne Disziplinen
aus den Bereichen der Geschichtswissenschaft, Sprachwissenschaft
und Kulturwissenschaft” zusammen mit dem “Kanon der islamischen
Wissenschaften (…) in eine islamische Wissensordnung einzubinden”
(S. 12). Die Besonderheit der islamischen Theologie im Konzert der
anderen universitären Wissenschaften liegt also nicht in einer beson￾
deren Zugangsweise, sondern in der (Neu-)Konstellation von Diszip￾
linen, die je für sich genommen auch anderen Fachbereichen zuge￾
ordnet sein können: der Philologie, der Geschichtswissenschaft, der
Philosophie oder eben – in Bezug auf den “Kanon der islamischen
Wissenschaften” – der Islamwissenschaften.
Diese Bestimmung der “Positionalität” und Eigenart der islami￾
schen Theologie durch den Hinweis auf die Konstellation zu beant￾
worten, scheint zunächst sehr überzeugend: Islamische Theologie
forscht methodisch so wie andere Wissenschaften, doch sie stellt die
Starke Subjekte 193
Urheberrechtlich geschütztes Material
einzelnen Elemente im Blick auf ihr Forschungsinteresse neu zusam￾
men. Doch kann man, so muss man fragen, das Interesse, die Pers￾
pektive, den Blick, mit dem die Islamische Theologie die Zusammen￾
stellung unternimmt, noch genauer fassen? Das Positionspapier gibt
hier meines Erachtens durchaus eine Antwort – und verunmöglicht
sie zugleich: So bestimmt es das spezifisch “Islamische” der Kons￾
tellation, d. h. die Eigenart der islamischen Wissensordnung, gerade
dadurch, dass sich in einer “islamischen Perspektive” religiöse und
wissenschaftliche Erkenntnis spannungsfrei einander zuordnen:
“Der Anspruch des Islam auf die Deutung der Welt stützt sich auf
ein erkenntnistheoretisches Modell, das von Sinneswahrnehmungen,
der Vernunft und der Offenbarung als Grundlagen der menschlichen
Erkenntnis ausgeht” (S. 11). Oder an anderer Stelle:
“Auch im Lichte der koranischen Aufforderung zu einer weltlichen
Deutung und Erklärung von Welt und Wirklichkeit kennt der Islam
keine Trennung in separate, miteinander konkurrierende wissen￾
schaftliche und institutionelle (kirchliche) Erklärungsmodelle von
Welt und Geschichte, welche die ‘Bindung’ einer Sphäre (der Uni￾
versität) an die andere (die Institution) zwecks Widerspruchslö￾
sung erforderlich machen würde.” (S. 14)
So sympathisch diese Intention ist, sieht sie im Letzten doch stark
nach einer Tautologie aus: Die Eigenart der islamischen Wissensord￾
nung – und das heißt ja die spezifische Perspektive, in der die unter￾
schiedlichen Disziplinen, die je für sich genommen auch Gegenstand
anderer Fachbereiche sein könnten, zusammengestellt werden – liegt
darin, dass sie eben keine Unterscheidung zu den Wissensordnungen
anderer Wissenschaften hat.
Aus christlich-theologischer Perspektive stellt sich hier die Frage,
ob das “Theologische” der Islamischen Theologie in diesem Punkt
nicht methodisch stark unterbestimmt bleibt und sich die Islamische
Theologie letztlich der Gefahr eines wissenschaftlichen Dezisionis￾
mus aussetzt. Die Gefahr wird darin ansichtig, dass nur ein einziger
194 Tobias Specker
Urheberrechtlich geschütztes Material
Punkt übrig bleibt, in dem die Positionalität tatsächlich greifbar wird,
nämlich in der bereits zitierten Aussage “Unterschiede zwischen
der theologischen und nichttheologischen Islamforschung liegen in
erster Linie in der Relevanz des Forschungsgegenstandes und der
erzielten Ergebnisse für die Konstituierung muslimischer Subjektivi￾
tät” (S. 16). Doch worin liegt diese “Relevanz”? Warum wäre z. B.
ein Muhammadbuch einer islamischen Theologin relevanter für die
Konstituierung muslimischer Subjektivität als das eines Islamwissen￾
schaftlers? Die Relevanz kann ja nicht in einer durch eine spezifische
Methodik gewonnenen Erkenntnis liegen, denn diese wurde soeben
abgewiesen. Sie kann auch nicht aus der Verortung der islamischen
Theologin in der Glaubensgemeinschaft gesucht werden, denn diese
wurde zur Positionalität als ungeeignet betrachtet. Somit bleiben
zwei Möglichkeiten: Entweder kommt die einzelne Wissenschaftlerin
selbst für diese Relevanz auf. Da jedoch die persönliche Akzeptanz der
grundlegenden Glaubensartikel mit dem Hinweis auf “Selbstbestim￾
mung und persönliche Autonomie” (S. 13) verständlicherweise einer
öffentlichen Überprüfbarkeit entzogen ist, bleibt dieses Kriterium der
Positionalität vollkommen vage. Oder die Relevanz liegt in dem von
dem einzelnen Lehrenden abstrahierten Faktum, dass nun eben eine
Muslima die Forschung betreibt, die methodisch jedoch auch jeder
andere Forscher unternehmen könnte. Das Positionspapier scheint in
diese letztere Richtung zu denken, wenn es die Abgrenzung zur Islam￾
wissenschaft darin sieht, dass “Muslime vom Forschungsgegenstand,
etwa der Islam- oder Religionswissenschaften, zu den tragenden Sub￾
jekten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Islam”
werden. Explizit ist von der “Formulierung und Entwicklung neuer
Perspektiven” die Rede, “die mit einer Subjektwerdung einhergehen”
(S. 15). Die Positionalität der Islamischen Theologie wird in dieser
Weise mit der Subjektwerdung der Muslime in der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit dem Islam identifiziert. In diesen Formulie￾
rungen wird eine grundlegende Eigenart des Positionspapiers greif￾
bar: Geprägt von den Leitbegriffen der “Autonomie”, “Emanzipation”
und “Selbstbestimmung” baut es auf einer starken, ungebrochenen
Starke Subjekte 195
Urheberrechtlich geschütztes Material
Subjekttheorie auf, in der das sich selbst bestimmende Subjekt für die
Eigenart, den Zusammenhalt und die Relevanz seines Wissensgegen￾
standes maßgeblich ist. Diese Identifizierung der inhaltlichen Bestim￾
mung islamischer Theologie mit muslimischer Subjektwerdung pro￾
voziert jedoch Fragen: Bleibt die Bestimmung islamischer Theologie
damit nicht weiterhin seltsam inhaltsleer – oder weniger freundlich
gefragt: Bleibt vom “Theologischen” der islamischen Theologie mehr
übrig als der Gestus der Selbstbehauptung? Könnte die wiederholte
und vehemente Forderung von Studierenden nach persönlicher Fröm￾
migkeit und Gläubigkeit der Lehrenden nicht genau hier ihren Grund
haben: Denn einerseits enthält die Islamische Theologie ein Verspre￾
chen auf “Positionalität”, das durch den Hinweis auf eine “islami￾
sche Wissensordnung” verstärkt wird. Zum anderen bleibt als Garant
für die Spezifizität dieser Wissensordnung jedoch nur die “Relevanz”
übrig, für die entweder die persönliche Authentizität der einzelnen
Wissenschaftler oder die abstraktere Subjektwerdung aufkommen
muss. Kein Wunder also, dass die Studierenden sich weniger an die
transzendentale Subjektivität als an die konkreten Subjekte des Lehr￾
betriebs, möglichweise nicht immer zu deren Freude, richten.
Alle drei Versuche, die Positionalität der islamischen Theolo￾
gie zu greifen, sind mithin meines Erachtens nach noch nicht voll￾
kommen überzeugend. Der Schlüssel liegt meines Erachtens in einer
inhaltlich stärkeren Bestimmung der “Subjektwerdung”, die auch die
Kritik neuzeitlicher Subjektphilosophie mit einbezieht. Von hierher
ein Ausblick: Es ist auffallend, dass die Deutung der Theologie als
Glaubenswissenschaft mit Transzendenzbezug in dem Positionspa￾
pier keine Rolle spielt. Dies mag an der stark soziologisch gepräg￾
ten Zugangsweise liegen. Es mag jedoch auch daran liegen, dass
der Glaube implizit als Wissen bestimmt und das spannungsfreie
Miteinander von Glauben und Wissen explizit als Kennzeichen der
islamischen Theologie herausgestellt wird. Dies ist im Blick auf die
islamische Tradition überzeugend, doch wird damit nicht auch eine
Chance vertan? Denn zum einen kommt die existenzielle Dimension
der Theologie gänzlich abhanden. Auch in dieser Hinsicht könnten
196 Tobias Specker
Urheberrechtlich geschütztes Material
Frömmigkeitsforderungen nicht nur eine Problematik, sondern auch
ein Defizit in der Konzeption islamischer Theologie anzeigen. Müsste
man dementsprechend in der Kritik am Beiratsmodell nicht auch
noch einmal schärfer unterscheiden zwischen der Frage nach religiös￾
institutioneller Autorität und der Verwiesenheit der Theologie auf
den existenziellen, möglicherweise auch gemeinschaftlichen Vollzug
des Glaubens, der durch den individualisierten Relevanzbegriff (s. o.)
noch nicht hinreichend eingefangen wird?
Zum anderen geht der Theologie, wird sie nicht auch als Glau￾
benswissenschaft bedacht, eine spezifische Erkenntnisform verloren.
Kann nicht auch für islamische Theologie die Reflexion über den
Glaubensakt noch einmal eine spezifische Bestimmung ihrer uni￾
versitären Verankerung erbringen? Verbunden müsste sie sein mit
einer genaueren Bestimmung, wie die Erkenntnisquellen der “Sin￾
neswahrnehmungen, der Vernunft und der Offenbarung” (S. 11) ein￾
ander zugeordnet sind. Verabschieden müsste sie sich von der Vor￾
annahme, dass nur empirisches Wissen universitär verantwortbar ist
und tiefer die Eigenständigkeit empirischer, ethischer und religiöser
Urteile reflektieren. Und auf Dauer erscheint mir die Hinarbeit auch
der Disziplinen der Koranexegese und der Hadithwissenschaft zu
systematisch-theologischen Fragen unerlässlich: Was wären Elemente
einer islamisch-theologischen Schöpfungslehre, Religionstheologie
oder Anthropologie? Alle notwendigen und mit Zeit und Freiraum
zu unternehmenden philologischen Studien und historischen Veror￾
tungen können die Frage nach der Gegenwartsbedeutung und den
Bezug auf ein wie auch immer vorläufig und unabgeschlossen gestal￾
tetes Gesamt von “islamischer Theologie” nicht ausklammern. Hier￾
für spricht alleine das Faktum, dass viele der Abschlussarbeiten im
Bereich der angewandten Ethik geschrieben werden, die ohne diese
Orientierung ohne ausreichendes theologisches Fundament blieben.
Eine islamische Theologie kann sich mithin nicht auf “Beobachtungs￾
prozesse zweiter Ordnung” (S. 24) zurückziehen und religiös-kultu￾
relle Daten in empirischen Falsifikationsverfahren abarbeiten. Hinge￾
gen “stünde es [gut] um die Sache der Theologie”, so der ehemalige
Starke Subjekte 197
Münsteraner Dogmatiker Jürgen Werbick, “wenn sich hinreichend
begründet aufweisen ließe, wie Glaubensüberzeugungen elementar
dazu beitragen können, dass sich wissenschaftliche Welt- und Selbst￾
wahrnehmung erweitert und vertieft – und damit auch relativiert
wird.” (Werbick 2010: 21) Wäre dies nicht auch für eine islamische
Theologie denkbar?
Der Weg der islamischen Theologie, so zeigt dieses anregende
und gerade im Hinblick auf die institutionelle und gesellschaftliche
Situation analytisch starke Positionspapier, ist damit noch offen:
Geht sie mehr in Richtung einer islamischen Religionswissenschaft?
Dort wird sie ihre “Wissenschaftlichkeit” zweifellos behaupten, für
die christliche Theologie würde sie damit jedoch zum bloßen Mate￾
rialobjekt. Oder vertieft sie in ihrer Selbstreflexion das “Theologi￾
sche”– und kommt zu einer spezifischeren und greifbaren eigenen
Erkenntnisperspektive? Die eher kollateral getroffenen theologischen
Überlegungen des Positionspapiers sind, bei allem Widerspruch, den
sie soeben gefunden haben, schon jetzt ausgesprochen fruchtbar.
Literatur
Werbick, Jürgen: Einführung in die theologische Erkenntnislehre, Frei￾
burg: Herder, 2010.

Urheberrechtlich geschütztes Material
Theologie im Rückspiegel des Subjekts
Zum Positionspapier
“Islamische Theologie in Deutschland”
Müfit Daknili*
Struktur des Positionspapiers und seine Problemstellung
Der von einer Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ins￾
tituts für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Goethe￾
Universität verfasste Beitrag Islamische Theologie in Deutschland: Her￾
ausforderungen im Spannungsfeld divergierender Erwartungen versteht
sich als Positionsbestimmung islamischer Theologie und wird im Fol￾
genden mit dem Namen “Positionspapier” angesprochen.
Das Positionspapier unterscheidet zwischen “Islamischer Theo￾
logie” (im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin) und “islamisch￾
theologischen Studien”, worunter jene vom Wissenschaftsrat (Wis￾
senschaftsrat 2010: 37ff., 73ff.) geforderten und nun vorhandenen
Einrichtungen an deutschen Universitäten zusammengefasst werden,
an denen sich Islamische Theologie vollzieht (S. 7). Zuweilen wird
unter “islamisch-theologischen Studien” aber auch das Fach Islami￾
sche Theologie verstanden, sofern es Gegenstand dieser Einrichtun￾
gen ist (insbesondere S. 19).
Schon die Empfehlungen des Wissenschaftsrats bestimmen den
dort gebräuchlichen Begriff “Islamische Studien” nicht inhaltlich, son￾
dern begnügen sich mit dem Verweis auf die “theologische Orientie￾
rung” (Wissenschaftsrat 2010: 73) dieses Faches, um dann hinzuzu￾
fügen,
* Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam, Universität Frankfurt.
200 Müfit Daknili
Urheberrechtlich geschütztes Material
“dass die Islamischen Studien als ein sich in Deutschland neu ent￾
wickelndes Fach intensiv mit den anderen Theologien, den islam￾
wissenschaftlichen Fächern sowie den Geistes-, Kultur- und Sozi￾
alwissenschaften an den Universitäten kooperieren. Allein diese
Kooperationen können gewährleisten, dass die an deutschen Uni￾
versitäten herrschenden wissenschaftlichen Standards von Anfang
an in den neu entstehenden deutschsprachigen Islamischen Stu￾
dien berücksichtigt werden.”1
Auch das Positionspapier unternimmt keinen expliziten Versuch darzu￾
legen, was unter dem Begriff “Islamische Theologie” allgemein bzw.
als Fach des deutschen staatlichen Hochschulsystems zu verstehen
ist. Es widmet sich strukturell und konzeptuell geprägten Faktoren, in
deren Spannungsfeld sich “Islamische Theologie” bewegt (S. 8):
A: Strukturelle Bedingungen und Akteure insofern sie die islamisch￾
theologischen Studien berühren;
B: Konzepte von Wissenschaftlichkeit, die an die islamisch-theolo￾
gischen Studien herangetragen werden.
Als “Positionspapier” ist der Beitrag zunächst insofern zu ver￾
stehen, als er den Standpunkt der Autorinnen und Autoren im Hin￾
blick auf die den Komplexen A und B zugeordneten Faktoren darlegt.
Durch den Hinweis, dass hierbei “Haltungen zu Fragen von Wissen￾
schaftlichkeit und Positionalität der Islamischen Theologie” (S.  8)
zugänglich gemacht werden sollen, wird darüber hinaus deutlich,
dass auch eine Ortsbestimmung Islamischer Theologie in Relation
zu den Faktoren angestrebt ist. Der Vollständigkeit halber sei ange￾
merkt, dass das Schaubild auf Seite 9 und der folgende Text die Fak￾
toren unterschiedlich zusammenfassen. Der Text trägt die Faktoren
der Reihenfolge nach, wie folgt, vor:
•  Theologie als Wissenschaft (B),
•  Bekenntnisbindung (A),
1 Wissenschaftsrat 2010: 77, Hervorhebung von mir.
Theologie im Rückspiegel des Subjekts 201
Urheberrechtlich geschütztes Material
•  Nichttheologische Religions- und Islamforschung (B),
•  Universitätsbetrieb (A),
•  Muslimische Religionsgemeinschaften (A),
•  Erwartungshaltung der Öffentlichkeit (A),
•  Politik/Staat (A),
•  Studierende (A).
Dabei sind die Faktoren neuzeitliches Wissenschaftsverständnis, etab￾
lierte islamische Theologien außerhalb Deutschlands und traditionelle
islamische Gelehrsamkeit des Schaubildes im Text dem Faktor Theolo￾
gie als Wissenschaft zugeordnet.
Für das Folgende gehe ich von der These aus, dass die Islami￾
sche Theologie gegenüber den Umständen ihres Vollzugs, zumindest
solchen, die im Positionspapier in Form der genannten Faktoren abge￾
handelt werden, ihr eigene Freiheitsgrade behauptet, die sich in Tei￾
len der Möglichkeit ihres Transzendenzbezuges verdanken. Es wird
also vorausgesetzt, dass Islamische Theologie nicht vollständig von
den genannten Umständen determiniert ist.
Auch wenn das Positionspapier den Begriff “Islamische Theolo￾
gie” nicht explizit entwickelt, scheint klar, dass die Autorinnen und
Autoren von einem (zumindest vorläufigen) Verständnis ausgehen,
das darüber hinaus umstandsfreie Elemente enthält, d. h., dass die
oben genannten “Haltungen zu[r] (…) Positionalität der Islamischen
Theologie” sich nicht auf die genannten Faktoren reduzieren lassen.
Bedauerlicherweise geht das Positionspapier weder auf die Gründe
für seinen überwiegend an äußeren Umständen orientierten Ansatz,
noch auf die Frage ein, wie und ob die ausgewählten Faktoren eine
irgendwie geartete Vollständigkeit für sich beanspruchen können.
Der bis hier skizzierten Struktur des Positionspapiers folgend
erscheint es vertretbar, seinen Inhalt mit einer in ihn eingelassenen
Problemstellung zu konfrontieren, d. h. mit der Frage, wie es sich zum
Begriff “Islamische Theologie” stellt, zumal das, was hiermit verbun￾
den ist, in der noch jungen Vergangenheit dieses Faches nicht gerade
wenig zu Missverständnissen und auch Verwerfungen beigetragen hat.
202 Müfit Daknili
Urheberrechtlich geschütztes Material
Wie dem Verhältnis von Islamischer Theologie (in Deutschland)
zu den Umständen ihres Vollzugs begegnet wird, kann von einer
Betonung ihrer Eigenbestimmung bis zu einer weitreichenden Deter￾
minierung durch diese Umstände variieren. Angesichts des zarten
Alters dieses Faches in Deutschland und seinen nicht immer über￾
zeugenden systematischen Positionierungen in der jüngeren islami￾
schen Geschichte – beide mahnen zur Bescheidenheit – mag man sich
darüber hinaus damit begnügen, trotz der damit drohenden Unbe￾
stimmtheit Islamischer Theologie, die Bedingungen ihrer Möglich￾
keit auszuloten – eine nicht minder schwere Aufgabe –, um sie nicht
überhastet an Linien auszurichten, die ihre Ausprägung vorschnell
einschränkten.
Meinem Eindruck nach enthält das Positionspapier  –  und dies
macht seinen Reiz, aber auch seine Schwierigkeit aus – Elemente aller
drei genannten Verfahrensweisen und versucht diese gleichrangig
(im Hinblick auf die Bestimmung Islamischer Theologie) aufeinander
zu beziehen. Es führt etwa islamische Quellen, den Koran, die Sunna
und den Konsens, zur partiellen Wesensbestimmung Islamischer Theo￾
logie an, und stellt diese in ein Verhältnis zu den Bedingungen der
Möglichkeit derselben, die im Positionspapier zuvörderst von der For￾
derung nach Wissenschaftlichkeit konturiert erscheinen, so, als würde
letztere, wenn nicht schon aus den Quellen ableitbar, so zumindest
nicht im Widerspruch zu ihnen stehen (S. 12, S. 14f.). Dieser Topos
entstammt dem islamischen Reformdenken des 19. Jahrhunderts und
seine Fruchtbarkeit mutet, wenn nicht schon damals, so doch heute
rhetorisch an, da er von vornherein einen so zentralen Begriff wie
ʿilm als Episteme mythologisiert,2 also enthistorisiert, anstatt ihn für
sich und/oder in seinem Entwicklungsgang als Gegenstand theolo￾
gischer Reflexion auszuweisen, den Begriff mithin vorschnell dem
Bereich der Bedingungen der Möglichkeiten Islamischer Theologie
zuschlägt. Dass immer schon die Quellen, d. h. eine bestimmte Lesart
2 Siehe Abu Zaid 1996; Abu Zaid / Kermani 2001; Abu Zayd 2006; Nagel 1994
(letztes Kapitel); Hildebrandt 2007: 108.
Theologie im Rückspiegel des Subjekts 203
Urheberrechtlich geschütztes Material
oder eine von methodischen Entscheidungen zu Garben gebundene
Variation von Lesarten als Innenbezirk theologischen Denkens gelten,
mit anderen Worten, dass immer schon eine Ursprungsmetaphysik
als Transzendenzbezug herhalten musste, darauf scheint das moderne
islamische Denken weit mehr zu insistieren als noch seine klassischen
Vorbilder.3
Die folgende auf Einzelheiten eingehende Darstellung ‏beschränkt
sich auf die Faktoren Theologie als Wissenschaft (S. 9ff.), Bekenntnis￾
bindung (S. 13ff.) und Nichttheologische Religions- und Islamforschung
(S. 15ff.).
Theologie als Wissenschaft
Der Faktor Theologie als Wissenschaft ist, wie oben angemerkt, als
Zusammenschluss der Faktoren Neuzeitliches Wissenschaftsverständnis,
Etablierte Theologien außerhalb Deutschlands und Traditionelle islami￾
sche Gelehrsamkeit zu verstehen. Alle diese Faktoren sind dem Kom￾
plex B (siehe oben) zugeordnet, der, so mag es scheinen, die Isla￾
mische Theologie notwendig4 bestimmt. Erst  wenn die Islamische
Theologie zu einem Verständnis ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit
gelangt ist, kann sie den restlichen, dem Komplex A zugeordneten
Faktoren überhaupt in selbstbestimmter Weise begegnen.
Die Relevanz des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses für die
Islamische Theologie mündet in seinen praktischen Anteilen in die
Charakterisierung des Erkenntnisprozesses im universitären Umfeld
“als eine permanente ergebnisoffene Suchbewegung, die Modelle zur
3 So etwa die von Rahman postulierte “deeper unity” des Korans, Rahman
1984: 3ff.
4 Hinreichenden Charakter scheint der in die Islamische Theologie eingelassene
relationale Charakter “vis-à-vis sowohl der eigenen internen Vielfalt als auch
der multiplen und variablen Kontexte” (S. 12) zu haben sowie die Konstituie￾
rung einer innenperspektivischen “muslimischen Subjektivität”, die in ihrer
wissenschaftlichen Ausprägung ein “Potential zur Generierung von religiösen
Wertvorstellungen” (S. 16) besitzt.
204 Müfit Daknili
Urheberrechtlich geschütztes Material
Erklärung und Deutung der Welt und der Wirklichkeit entwickelt”
(S. 10). Die Frage, ob der Passus
“In permanenter kritischer Auseinandersetzung mit verschiedenen
Wissenschaftstraditionen (…) müssen auch die islamisch-theologi￾
schen Studien eigenständige, an wissenschaftlichen Standards aus￾
gerichtete leistungsfähige Modelle entwickeln (…)” (S. 10)
so verstanden werden kann, dass auch die Kritik moderner Wissen￾
schaftskonzepte die Sache Islamischer Theologie ist, sie diese also aus
dem Blickwinkel ihrer eigenen (transzendenzbezogenen) Perspek￾
tive reflektiert, bleibt unbestimmt, da nicht klar ist, inwieweit die
geforderte Ausrichtung an “wissenschaftlichen Standards” ein solches
Unterfangen, dessen Möglichkeit immerhin ein klares Unterschei￾
dungsmerkmal zur nichttheologischen Islamforschung generieren
würde, von vornherein auszuschließen vermag. Bedeutsam jedenfalls
erscheint diese Frage für den Faktor Etablierte Theologien außerhalb
Deutschlands, der dem Positionspapier zufolge die Islamische Theologie
(als Fach der islamisch-theologischen Studien) insoweit bestimmt, als
sie “Akteurin der globalen islamischen theologischen Diskursland￾
schaft” (S. 10) ist. Denn hier ist zu bedenken, dass die islamisch-theo￾
logischen Studien in diesem Zusammenhang gezwungen sein werden,
sich in Kontexten zu bewegen, die moderne Wissenschaftskonzepte
implizit oder explizit zur Disposition stellen. In nicht wenig Fällen
könnte dann aber eine innerislamisch begründete Position zu dieser
Frage fundamentale Voraussetzung für den “produktiven Austausch￾
prozess (…) mit globalen theologischen Diskursen” sein.
Im Hinblick auf den Faktor Traditionelle islamische Gelehrsamkeit
machen die Autorinnen und Autoren geltend, dass sich die islamisch￾
theologischen Studien im Gegensatz zur (traditionellen) islamischen
Gelehrsamkeit der wissenschaftlichen “Legitimation nach außen”
stellen müssten, was die Auseinandersetzung “sowohl mit moder￾
nen Wissenschaften als auch mit traditionellen Methoden” (S.  11)
sowie eine Reflexion auf die “Neubegründung der islamischen Wis-
Theologie im Rückspiegel des Subjekts 205
Urheberrechtlich geschütztes Material
sensordnung in universitärer Umgebung” beinhalte. Dem Positionspa￾
pier zufolge heißt dies, dass sich die islamisch-theologischen Studien
nicht mit bloßer Verwaltung/Bewahrung der Tradition zufrieden stel￾
len dürfen, vielmehr sei eine “reflexive theologische Auseinanderset￾
zung” geboten, sich der “Rekonstruktion von historischen Konstituie￾
rungsprozessen, von religiösen Traditionen und ihre[r] Reflexion und
Aktualisierung im Lichte gegenwärtiger kontextueller Bedingungen”
(S. 11) zu widmen.
Den Charakter einer innerislamischen Rechtfertigung oder zumin￾
dest eines innerislamischen Plausibilitätsarguments scheint der Hin￾
weis auf die koranische Aufforderung “zu einem reflexiven Umgang
mit der Welt” (S. 11) zu haben. Eine Islamische Theologie, die diese
Aufforderung ernst nimmt, in den Worten des Positionspapiers “von
diesem Offenbarungsverständnis ausgeht”, “verpflichtet ihre Akteure,
nicht nur die Welt und die Wirklichkeit, sondern auch den eigenen
Standpunkt darin immer wieder neu zu reflektieren und gegebenen￾
falls neu zu bestimmen” (S.  12). Eine direkte Argumentationskette
führt dann zu der Forderung, dass der Kanon (welcher?) der Fächer,
“welche die Islamische Theologie ausmachen bzw. aus denen sie
schöpft und an welche sie anknüpft” (S. 12), um Geschichts-, Sprach￾
und Kulturwissenschaften erweitert werden müsse. Diese Erweiterung
ist enger gefasst als jene der Empfehlungen des Wissenschaftsrats, denn
dort ist an analoger Stelle immerhin die Rede von “Geistes-, Sprach￾
und Sozialwissenschaften” (Wissenschaftsrat 2010: 73). Warum, so
ließe sich fragen, sollen nicht etwa Philosophie und Naturwissen￾
schaften eine ebensolche Ergänzungsfunktion tragen dürfen.
Doch wie steht es mit dem eingangs angeführten Plausibili￾
tätsargument? Trifft nicht derselbe Vorwurf, den das Positionspapier
gegenüber den Bemühungen geltend macht, neue wissenschaftliche
Erkenntnisse in den Koran hineinzulesen (S. 11) auch das Offenba￾
rungsverständnis, das dem Koran eine Aufforderung zu “einem refle￾
xiven Umgang mit der Welt” (S. 11) zuschreibt? Während das tafsīr
ʿilmī etwa die Allgemeine Relativitätstheorie im Koran ausmacht und
nicht berücksichtigt, wie der Text ohne Bezug auf den geistigen Ent-
206 Müfit Daknili
Urheberrechtlich geschütztes Material
wicklungsgang, der dieser Theorie vorangeht und mit ihr untrennbar
verbunden ist, auf sie verweisen kann, legt auch das geltend gemachte
Offenbarungsverständnis keine Rechenschaft darüber ab, wie der
Koran auf das verweisen kann, was heute mit der Wendung “Refle￾
xion von Welt” verstanden wird. Ohne dass die Islamische Theologie
sich – auch abseits von hermeneutischen Überlegungen – ernsthaft
der Frage nach dem metaphysischen Status des Korans zuwendet,
erscheint ein solches ad-hoc-Offenbarungsverständnis zu einfach
erkauft.
Darüber hinaus hat eine islamische Theologie sich der Frage zu
widmen, wie sie das Attribut ihres Namenszuges, “islamisch”, zu ver￾
stehen gedenkt. Der vielerorts vorgebrachte und von postmoderner
Bequemlichkeit getragene Hinweis auf “Plurikontextualität” (S. 10)
und “heterogene diskursive” Tradition (S. 13) ist nicht ausreichend,
da er nicht zeigt, welches Band er auf welcher Ebene zwischen den
zwar disparaten, doch immerhin als islamisch wahrgenommenen
Phänomenen zu knüpfen bereit ist. Damit muss nicht zwangsläu￾
fig ein essentialistisches Verständnis von Islam verbunden sein, das
seine “eigene interne Vielfalt” und die “multiplen Kontexte” negiert.
Zu denken wäre z. B. an familienähnliche Strukturen, auch solche mit
transzendenten Bezügen. Jedenfalls ist die Auseinandersetzung mit
der Bedeutung dieses Attributs nicht schon durch den Hinweis auf
einen zu Recht diskreditierten Essentialismus hinfällig.
Bekenntnisbindung
Dem Positionspapier zufolge lässt sich das Bekenntnis zum Islam auf
drei Prinzipien zurückführen: Zum einen auf den Glauben an die Ein￾
heit Gottes (tawḥīd), dann an die Prophetie (nubuwwa) und schließ￾
lich an das Jenseits (maʿād). Dem Anschein nach bilden diese Grund￾
lagen einen Glaubenskonsens, doch haben sich aus dem spezifischen
Verständnis dieser Grundlagen ganz und gar unterschiedliche Auffas￾
sungen ihrer Inhalte und Wertungen ergeben, die gerade als Kristalli-
Theologie im Rückspiegel des Subjekts 207
Urheberrechtlich geschütztes Material
sationspunkte der Widersprüche theologischer Schulmeinungen dien￾
ten und dienen. Insofern sind sie Glaubenskonsens nur dem Namen
nach. Auch das Positionspapier gesteht dies ein:
“Diese Konsensfeststellung jedoch schafft auch einen Raum für
die diskursive Auseinandersetzung über Subthemen und Inhalte
der genannten Glaubensprinzipien [d.  h. tawḥīd, nubuwwa und
maʿād]” (S. 13).
Ein “kleinster gemeinsamer Nenner” (S. 14) ist durch die bloße Auf￾
zählung nicht gefunden, vielmehr ist die Frage aufgeworfen, wie und
ob sich ein solcher aus der Theologiegeschichte herausschälen lässt
und welcher Sinn ihm im Rahmen herauszuarbeitender theologischer
Systeme zukommen würde, die sich, wie das Positionspapier fordert,
nicht damit zufrieden geben, Tradition nur zu verwalten.
Die These, dass der Islam “im Lichte der koranischen Aufforde￾
rung zu einer weltlichen Deutung und Erklärung von Welt und Wirk￾
lichkeit” keine “Trennung in separate, miteinander konkurrierende
wissenschaftliche und institutionelle (kirchliche) Erklärungsmodelle
von Welt und Geschichte” (S. 14) kenne, erscheint ob ihrer immer
schon dünnen Begründung und der im Text folgenden zugegebenen
Einschränkung, dass sich die Frage stelle, inwieweit dieser Anspruch
in der islamischen Geschichte tatsächlich eingelöst würde (S.  15),
essentialistisch, weniger wohlwollend gelesen, einfach als regelmä￾
ßig wiederholter Gemeinplatz, der mehr Fragen aufwirft als er zu
klären vorgibt, zumindest solange der Begriff ʿilm keiner ernsthaften
begriffshistorischen Analyse5 zugeführt wird, die seine theologische
Inanspruchnahme begleitet.
5 Ansätze hierzu in Rosenthal 1970.
208 Müfit Daknili
Urheberrechtlich geschütztes Material
Nichttheologische Religions- und Islamforschung
Das Positionspapier macht für den Unterschied zwischen theologi￾
scher und nichttheologischer Islamforschung vor allem die “Relevanz
des Forschungsgegenstandes und der erzielten Ergebnisse für die
Konstituierung von muslimischer Subjektivität” (S. 16) geltend. Im
Angesicht der wenig späteren Einschränkung auf eine nur mögliche
Relevanz6 und der unbeantworteten Frage, wie objektiv zwischen
der Relevanz einer islamwissenschaftlichen Arbeit und einer der isla￾
misch-theologischen Studien unterschieden werden kann, erscheint
dieses Kriterium wenig aussagekräftig und für eine Abgrenzung der
theologischen von der nichttheologischen Islamforschung ungeeig￾
net.
Darüber hinaus sei auf den Umstand verwiesen, dass der viel
bemühte Begriff “Innenperspektive” (S.  16) oftmals so verstanden
werden kann und wird, dass einem bestimmten Standpunkt schon das
Attribut “muslimisch” beigelegt wird, dessen Klärung indes in den
Gegenstandsbereich der eigenen (wissenschaftlichen) Tätigkeit fällt.
Wünschenswert wäre hingegen, die gesamte Bandbreite der eige￾
nen geistigen und lebenswirklichen Verfasstheit für die theologische
Arbeit zuzulassen, auch und gerade solche Anteile, die der Innenper￾
spektive zunächst fremd erscheinen müssen.
Schlussbetrachtung und Würdigung
Hauptintention des Positionspapiers scheint die berechtige Zurückwei￾
sung des Vollzugs Islamischer Theologie als administrativ-bürokra￾
tischer Akt zu sein. Hier werden die muslimischen Protagonisten zu
6 “Die universitäre Islamische Theologie selbst erhebt dabei keinen Anspruch
auf eine normative Verbindlichkeit ihrer Ergebnisse; da aber ihre Untersu￾
chungsgegenstände und -ergebnisse ein Potential zur Generierung von religi￾
ösen Wertevorstellungen enthalten, steht sie vor einer besonderen Herausfor￾
derung und vor allem in einer besonderen Verantwortung.” (S. 16)
Theologie im Rückspiegel des Subjekts 209
Urheberrechtlich geschütztes Material
Geburtshelfern einer politisch gewollten neuen islamischen Theologie
degradiert, deren Inhalt weitgehend durch die Erwartungshaltungen
der Mehrheitsgesellschaft geprägt ist.7 Es setzt diesen Erwartungen
einerseits ein eigenes methodenplurales Wissenschaftsverständnis
mit Rückgriff auf traditionelle islamische Disziplinen entgegen,8
andererseits betont es ein der Institutionalisierung Islamischer
Theologie innewohnendes oder sie begleitendes “emanzipatorisches
Potential”, das mit einer “Subjektwerdung” der Muslime einherginge
(S. 15), deren “Konstituierung” (S. 16) darüber hinaus auch die Gren￾
zen zwischen theologischer und nichttheologischer Islamforschung
bestimme. So nötig wie schwierig die Zurückweisung von Rollener￾
wartungen und eine emanzipatorische Affirmation auch sind, decken
sie nur einen Teil der Bedingungen des Vollzuges Islamischer Theo￾
logie ab; die Frage danach, wie dieses Fach sich als islamisch und
theologisch versteht, können sie nicht beantworten. Eine Standortbe￾
stimmung, auch versuchsweise und mit dem offen ausgesprochenen
Anspruch, eine große Brandbreite theologischer Positionierungen
zuzulassen oder gar zu erwirken, kann nicht einem theologisierenden
Hintergrundrauschen von Selbstaffirmation anheimgestellt werden.
Literatur
Abu Zaid, Nasr Hamid: Islam und Politik: Kritik des religiösen Diskurses,
Frankfurt am Main: Dipa, 1996.
Abu Zaid, Nasr Hamid / Kermani, Navid: Ein Leben mit dem Islam,
Freiburg: Herder, 2001.
Abu Zayd, Nasr / Amirpour, Katajun (Mitarb.) / Setiawan, Mohamad
Nur Kholis (Mitarb.): Reformation of Islamic thought: a critical his￾
torical analysis, Amsterdam: Amsterdam University Press, 2006.
7 Beispielhaft Bittner 2014.
8 Eine Anmaßung wäre es, anzunehmen, die traditionellen islamischen Diszip

linen oder ihr “Kanon” würden dem theologischen Hausgebrauch, wenn auch
nur in technischer Form, irgendwie schon vorliegen.
210 Müfit Daknili
Bittner, Jochen: “Wo bleibt ein Imam der 95 Thesen”. In: Zeit Online,
2.10.2014, URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-10/
islam-koran-auslegen-moderne-gesellschaft
(letzter Zugriff: 10.2.2015).
Wissenschaftsrat (Hg.): Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theo￾
logien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hoch￾
schulen, 2010, URL: http://www.wissenschaftsrat.de/download/
archiv/9678-10.pdf (letzter Zugriff: 31.1.2012).
Hildebrandt, Thomas: Neo-Muʿtazilismus? Intention und Kontext im
modernen arabischen Umgang mit dem rationalistischen Erbe des
Islam, Leiden: Brill, 2007.
Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam: “Islamische
Theologie in Deutschland: Herausforderungen im Spannungsfeld
divergierender Erwartungen” (Positionspapier). In: Frankfurter
Zeitschrift für islamisch-theologische Studien, Nr. 1 / 2014, S. 7–28.
Nagel, Tilman: Geschichte der islamischen Theologie: von Mohammed bis
zur Gegenwart, München: C. H. Beck, 1994.
Rahman, Fazlur: Islam and modernity: transformation of an intellectual
tradition, Chicago: The University of Chicago Press, 1984.
Rosenthal, Franz: Knowledge triumphant: the concept of knowledge in
medieval Islam, leicht veränderte 2. Aufl., Leiden: Brill, 2007
(Erstausg. 1970).

Urheberrechtlich geschütztes Material
Rezensionen / Book Reviews
Mouhanad Khorchide / Milad Karimi / Klaus von Stosch (Hg.): Theologie der
Barmherzigkeit. Zeitgemäße Fragen und Antworten des Kalām, Münster:
Waxmann, 2014. ISBN 978-3-8309-2981-9, Euro 24,90.
Mouhanad Khorchide hatte mit seinem Buch “Islam ist Barmherzig￾
keit” (2012) einen Entwurf vorgelegt, der die Barmherzigkeit Gottes
in den Mittelpunkt theologischer Überlegungen stellte. Auch wenn
seine Konzeptualisierung zu heftigen Kontroversen führte, wird wohl
kaum ein muslimischer Gläubiger, Intellektueller, Wissenschaftler
oder Theologe bestreiten, dass der Barmherzigkeit Gottes eine zen￾
trale Rolle innerhalb der islamischen Religion zukommt. Wie diese
Rolle im Detail aussehen soll, darin scheiden sich aber die Geister.
Genau diesem Thema hat sich der vorliegende Sammelband ver￾
schrieben, der das Ergebnis der ersten Sommerakademie ist, den das
Graduiertenkolleg Islamische Theologie der Stiftung Mercator orga￾
nisierte.
Insgesamt enthält der Sammelband Beiträge von elf Autoren und
ist in vier Teile strukturiert. Diese sind “Eine Theologie der Barmher￾
zigkeit?”, “Offenbarung und Barmherzigkeit”, “Attributenlehre und
Gottes Barmherzigkeit” und “Gottes Gerechtigkeit, Barmherzigkeit
und lebenspraktische Implikationen”. Dabei nehmen einige Beiträge
direkten Bezug auf die Schriften Mouhanad Khorchides, wohingegen
andere sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.
Der Band wird mit einem Beitrag von Khorchide selbst eröffnet,
in dem er seine Gedanken zur Barmherzigkeit Gottes gebündelt wie￾
dergibt. Neben der Betonung, dass für den Koran die Barmherzig￾
keit Gottes eine zentrale Botschaft ist, diskutiert Khorchide in seinem
Beitrag auch die Positionen verschiedener muslimischer Denkschulen
der systematischen Theologie (kalām). Dabei kommt er zu dem nicht
überraschenden Schluss, dass in der Tradition des kalām die Barm-
212 Rezensionen / Book Reviews
Urheberrechtlich geschütztes Material
herzigkeit nicht als Wesensattribut Gottes gedacht wurde, sondern sie
stattdessen als Tatattribut dem göttlichen Willen und dessen Macht
unterliege (S. 31). In seinem Bestreben, die Barmherzigkeit Gottes als
oberstes Handlungsprinzip und Wesenseigenschaft für Gott zu bestim￾
men, stützt sich Khorchide jedoch auf Ibn Taimīya. Dieser verstehe in
der Barmherzigkeit das göttliche Handlungsmotiv, das dem Willen
und der Macht vorangesetzt sei, und gemäß dessen Gott handele (S.
34). Damit verlagert Khorchide die Diskussion auf eine Tradition, die
den kalām ablehnt. Denn “Ibn Taimīya und die Gelehrten, die ihm
gefolgt sind” (S. 32), sowie die, die ihm voran gegangen sind, spre￾
chen sich gegen einen methodischen Zugang über den Mittel- oder
Neuplatonismus und für eine koranisch fundierte Gotteslehre (unter
Einbeziehung von relevanten Hadithen) aus. Daher kann der eklekti￾
zistische Verweis auf Ibn Taimīya methodisch nicht das von ihm skiz￾
zierte Problem lösen. Der gebildete Leser wird sich fragen, warum sich
Khorchide eigentlich über knapp sechs Seiten an der kalām-Tradition
abmüht, die auf Grund ihres methodischen Zugangs nicht zu leisten
vermag, was er sich gerne wünscht, um sich am Ende in eine andere
Denktradition zu flüchten. Diese methodische Unsauberkeit wirkt
sich negativ auf die folgenden Beiträge aus. Denn sowohl Klaus von
Stosch (“Barmherzigkeit als Leitkategorie für Islamische Theologie?”)
wie auch Milad Karimi (“Wie Gott als Barmherzigkeit gedacht wer￾
den kann”) gehen in ihren Beiträgen unter anderem darauf ein, ob die
Barmherzigkeit – wie von Khorchide behauptet – ein Wesensattribut
sein kann. Beide tun dies aus systematisch-theologischer Perspektive
heraus und kommen – natürlich – zu dem Ergebnis, dass sich die
Barmherzigkeit eben nicht als Wesensattribut denken lässt. Dabei
vermag es Andreas Renz mit seinem Beitrag “Gottes Attribute und die
Beziehung zu seiner Barmherzigkeit”, den eigentlichen Nerv der Kon￾
troverse um die Eigenschaft der Barmherzigkeit zu treffen. Wie er mit
Blick auf die christliche Theologie zeigen kann, ist es vordergründig
eine Frage des methodologischen Zugangs, wie mit Barmherzigkeit
umgegangen werden kann. “Eine vom Mittel- oder Neuplatonismus
beeinflusste Gotteslehre wird die Unendlichkeit und Unbeschreibbar-
Rezensionen / Book Reviews 213
Urheberrechtlich geschütztes Material
keit Gottes, also Seinseigenschaften ins Zentrum stellen, eine biblisch
fundierte Gotteslehre dagegen eher Handlungseigenschaften wie die
Liebe, Barmherzigkeit und Treue Gottes.” (S. 138) Diese Aussage lässt
sich auch auf die Islamische Theologie mit deren zwei Hauptströmun￾
gen, den kalām sowie die koran- und hadithbasierte Methodik, über￾
tragen.
Es wäre aber fatal, die Beiträge von Klaus von Stosch und Milad
Karimi ausschließlich in ihrer Abhängigkeit zu Khorchides Thesen zu
beurteilen. Denn beide Beiträge sind gut konzipiert und bieten span￾
nende Einblicke in die systematische Theologie beider Religionen.
Von Stosch schafft es beispielsweise, die nicht immer leicht nachzu￾
vollziehende Vorstellung verständlich zu machen, Gott als ein relatio￾
nales Geschehen zu denken. Durch dieses Konzept sei es möglich, die
Liebe als Wesenseigenschaft Gottes festzustellen. Diese Vorstellung
ohne weiteres auf die Eigenschaft der Barmherzigkeit zu übertragen,
gelinge jedoch nicht, da die damit beschriebene relationale Struktur
eine Hierarchie bedingen würde (S. 50). Eine relationale Vorstellung
Gottes lasse sich muslimischerseits wiederum nur sehr schwer denken
und verstoße gegen das Einheitsprinzip, so Karimi. Für ihn kann dar￾
über hinaus auch nicht die Liebe als Leitkategorie islamischer Theolo￾
gie gedacht werden und macht in seinem Beitrag die Barmherzigkeit
als solche Kategorie stark.
Ufuk Topkara (“Wa Allāhu aʾalam – Und Gott weiß es besser”)
setzt die Auseinandersetzung mit Khorchide an einem anderen Punkt
an. Er hinterfragt das von Khorchide oft entworfene Bild eines zorni￾
gen Willkürgottes und stellt die berechtigte Frage, woher dieser Ein￾
druck eigentlich stamme. Topkara kommt zu dem Ergebnis, dass das
Konzept Khorchides vor den “fundamentalistischen Interpretationen
als prägende Deutungsmodelle in der Moderne” und als Kritik an sie
entfaltet wird (S. 59). Topkara zufolge ist Khorchide auch mit Blick
auf das verengte Verständnis der Scharia den modernen Diskursen
verfallen, die die Scharia auf ein juristisches System reduzieren und
ihre Unvereinbarkeit mit westlichen Werten implizieren. Topkara
erklärt die Kritik von Khorchide an der islamischen Tradition für teils
214 Rezensionen / Book Reviews
Urheberrechtlich geschütztes Material
unbegründet, plädiert selbst für eine stärkere Einbeziehung dieser
Tradition, welche Teil der Lösung dieses Dilemmas sein könne.
Mouhammad Ali Shomali betrachtet in seinem Beitrag “Under￾
standing God’s Mercy” die Beschreibung Gottes als barmherzig im
Koran. Da bislang überwiegend mit der Quantität des Begriffs für
seine Zentralität argumentiert wurde, war seine qualitative Bestands￾
aufnahme längst überfällig. Der Beitrag Schomalis zeigt unter ande￾
rem, dass die Barmherzigkeit selten losgelöst von anderen Beschrei￾
bungen Gottes vorkommt. Hier nennt der Autor beispielsweise “His
Mercy and Power” (S. 84f.), “Merciful and Rich” (S. 87), “Merciful
and Knowledgeable” (S. 87f.), die er jeweils gesondert erläutert.
Die Barmherzigkeit Gottes sollte folglich nicht isoliert, sondern im
Kontext der Aussagen betrachtet und mit anderen Beschreibungen
Gottes in Relation gesetzt werden. Eine wichtige Eigenschaft, gegen
welche die Barmherzigkeit kontrastiert werden müsse – da sind sich
beinahe alle Autoren des Bandes einig – sei die göttliche Gerechtig￾
keit. Sie steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Serdar Kurnaz.
Statt den Koran aber nun schlicht nach den Begriffen Barmherzigkeit
und Gerechtigkeit zu durchsuchen, wirft Kurnaz sein Augenmerk dar￾
auf, wie die Offenbarung im Koran charakterisiert wird. Er kommt
zu dem Ergebnis, dass eine übermäßige Fokussierung auf den Aspekt
der Barmherzigkeit den Blick dafür verstellt, dass die Offenbarung im
Koran selbst öfter als Rechtleitung bezeichnet wird. Der Aspekt der
Gerechtigkeit sei vor allem für die fundamentale Offenbarung ent￾
scheidender, während die Barmherzigkeit für die historische Offen￾
barung zentral sei.
Über die Barmherzigkeit als Eigenschaft Gottes hinausgehend,
weist Nimet Seker (“Raḥma und raḥim. Zur weiblichen Assoziation
der Barmherzigkeit Allahs”) auf die semantische Nähe der beiden
arabischen Begriffe raḥma (Barmherzigkeit) und raḥim (Mutterschoß,
Verwandtschaftsbande) hin. Die Schriften des andalusischen Mysti￾
kers Ibn ʿArabī bilden den Ausganspunkt und Rahmen ihrer Überle￾
gungen. Für Ibn ʿArabī ist die Frau eine archetypische Verkörperung
der Barmherzigkeit und damit “als Schöpfungsprinzip und als Mani-
Rezensionen / Book Reviews 215
Urheberrechtlich geschütztes Material
festation göttlicher Attribute” (S. 118) mehr als nur eine Metapher
für die göttliche Barmherzigkeit. Dieser Ansatz sei, so Seker, nirgends
so deutlich wie in der koranischen Erzählung über Maryam, in deren
Schoß sich Offenbarung, Schöpfung und Prophetie vereinten.
Die Beiträge von Muhammed Ghaly “Muslim Theologians on
Evil: God’s Omnipotence or Justice, God’s Omnipotence and Justice”
und von Hureyre Kam “Die Asymmetrie der Gerechtigkeit” themati￾
sieren das Spannungsverhältnis zwischen der Barmherzigkeit Gottes
und der Theodizeefrage. Dabei gibt Ghaly einen fundierten Überblick
über die verschiedenen Positionen aus der islamischen Geschichte,
die er in zwei Hauptgruppen teilt. Für die erste Gruppe gilt Gottes
Handeln als unergründbar und sei nicht nach moralischen Maßstä￾
ben zu messen. Die zweite Gruppe hingegen postuliert, dass Gott
kein Übel für die Menschen will. Vielmehr seien die Menschen ver￾
antwortlich für das selbstverschuldete Übel. Nichtverschuldetes Übel,
wie Krankheit oder Behinderung, müssten als “Prüfung” bewertet
werden. Kam wagt darüber hinaus, sich dem Gleichnis einer asym￾
metrischen Waage zu bedienen, um die Spannung zwischen der Frei￾
heit des Menschen und Gottes Omnipotenz aufzulösen. Er begreift die
Freiheit des Menschen als “eine besonders barmherzige Tat Gottes für
den Menschen” (S. 184). Da nun aber der Mensch “schwach” geschaf￾
fen sei, und zu Verfehlungen neige, welche wiederum das Übel auf
der Welt verschulden, sei es nur gerecht, “dass in letzter Konsequenz
die Barmherzigkeit Gottes im Schiedsspruch überwiegt. Sobald aber
die Barmherzigkeit im Schiedsspruch überwiegt, (…) darf hiermit
ebenfalls postuliert werden, dass die Waage Gottes asymmetrisch ist
(…).” (S. 184)
Ilhan Ilkilic bringt die über weite Teile des Bandes eher theo￾
retisch geführte Diskussion über die Barmherzigkeit Gottes in das
konkrete Leben. Er behandelt Fragen der Stammzellforschung, der
aktiven und passiven Sterbehilfe, thematisiert den Hirntod und fragt
dabei, wie diese Themen, die immer größere Relevanz in unserem
Leben gewinnen, mit dem Konzept der Barmherzigkeit in Einklang
gebracht werden können.
216 Rezensionen / Book Reviews
Urheberrechtlich geschütztes Material
Der Band zeigt deutlich, dass die Barmherzigkeit ein zentrales
Thema innerhalb islamischer Theologie ist und schon immer war. Die
teils noch jungen Wissenschaftler und Theologen beweisen zudem,
dass es sich lohnt, über den Tellerrand der etablierten Theologen und
Autoren hinweg zu sehen, und dem Nachwuchs Aufmerksamkeit zu
schenken. Somit ist der Band ein durchaus lesenswerter Beitrag, des￾
sen Lektüre jedem interessierten Leser ans Herz gelegt werden kann.
Mohammad Gharaibeh (Bonn)
Rezensionen / Book Reviews 217
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Kerstin Rosenow-Williams: Organizing Muslims and Integrating Islam in
Germany, Leiden / Boston: Brill, 2012. ISBN 978-9004230552, Euro 168,00.
Kerstin Rosenow-Williams Dissertation zu islamischen Dachverbän￾
den in Deutschland ist zu einer Zeit entstanden, in der nach einer
kurzen Etappe institutionalisierter Zusammenarbeit zwischen Politik
und Islam in Deutschland große Fragen und Debatten im Raum stan￾
den. In kritischem Rückgriff auf bestehende Arbeiten und in eigener
Datenerhebung und -analyse hat sie genau diese Diskurse aufgegrif￾
fen, um eine wissenschaftlich fundierte Darstellung eines Ausschnitts
des Verbandsislams mit entsprechendem Erklärungsangebot für sein
organisationales Handeln in Bezug auf das ihn umgebende politische
Umfeld zu liefern und ist damit auf große Resonanz gestoßen. Ihre
Studie hat akademische Arbeiten zum organisierten Islam in der BRD
aufgegriffen und einen Schritt weiter geführt.
Zu muslimischen Organisationen in Deutschland sind erste Arbei￾
ten in den 1990er Jahren und um den Jahrtausendwechsel herum ent￾
standen, die unter verschiedenen Fragestellungen Genese, Strukturen,
Angebote und inhaltliche Orientierungen muslimischer Gemeinschaf￾
ten unterschiedlicher religiöser Richtungen (Sunniten, Schiiten, Ale￾
viten etc.) und ethnischer Minderheiten (türkisch, arabisch, bosnisch
etc.) zunächst überblicksweise darstellen.1 Zur damaligen Zeit stand
der öffentliche Diskurs zum Islam unter dem Eindruck der iranischen
Revolution und der globalen Debatte zum Fundamentalismus sowie
der These vom “Clash of Civilizations” (Huntington 1996). Zugleich
war dies der Zeitpunkt, zu dem muslimische Dachverbände sich hier￾
zulande mit Anerkennungsforderungen öffentlich zu Wort meldeten.2
1 Vor allem beziehe ich mich hier auf die Auswertung des Standartwerkes von
Lemmen (2000), aber auch auf Überblicksdarstellungen von Feindt-Riggers /
Steinbach (1997); Sen / Aydin (2002); Spuler-Stegemann (2001).
2 Ein chronologischer Abriss zu den Paradigmen und Fragestellungen, unter
denen die verschiedenen Abhandlungen zum Islam in Deutschland entstan￾
den sind, finden sich u. a. bei Thielmann (2008); Tezcan (2003).
218 Rezensionen / Book Reviews
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Seitdem ist die akademische Literatur zu muslimischen Gemein￾
schaften massiv angewachsen und lässt sich entsprechend ihrer Deu￾
tungsschwerpunkte im Wesentlichen fünf Topoi zuordnen, welche
ihren Gegenstand schwerpunktmäßig a) als Manifestation auswär￾
tiger Einflussnahme, b) als Migrantenselbstorganisation, c) als Pro￾
dukt regulativ-rechtlicher bzw. politischer Rahmenbedingungen, d)
in seinen organisatorischen Mechanismen und institutionellen Logi￾
ken oder e) als sozialstrukturelle Ausprägungsformen religiöser Ideen
abhandeln.
Kerstin Rosenow-Williams Arbeit zu muslimischen Organisatio￾
nen in Deutschland lässt sich Untersuchungen zuordnen, die in den
2010er Jahren entstanden sind und sich dem organisierten Islam aus
der Perspektive der politischen Soziologie annähern.
Waren Publikationen zu islamischen Organisationen in der Frage
nach der gesellschaftlichen Verortung des Islams überwiegend an den
herkunftsnationalen Dispositionen islamischer Gemeinschaften mit
ihren – häufig als negativ gedeuteten – Folgen für das Verhältnis zum
deutschen Staat interessiert,3 so hat sich in den vergangenen Jahren
ein Paradigmenwechsel vollzogen. Im Zuge dessen werden sie nicht
mehr vom Ansatz her primär als exterritoriale Gebilde, sondern als
Organisationen der deutschen Gesellschaft betrachtet. In neueren
Arbeiten spiegelt sich dieser veränderte Ansatz etwa in der umge￾
kehrten Fragestellung nach Einflüssen rechtlicher und politischer
Rahmenbedingungen in Deutschland auf die Konstitutionsweise und
auf das wechselseitige Verhältnis zwischen Staat und islamischen Ins￾
titutionen wider.
Aus gegenwärtiger politikwissenschaftlicher Perspektive interes￾
sieren muslimische Verbände und Akteure beispielsweise hinsichtlich
der Möglichkeit ihrer politischen Steuerung mit dem Ziel der Integra￾
tion von Muslimen in die BRD (vgl. Meyer / Schubert 2011). Eine kri￾
tische Reflexion der vorherrschenden Formen religiöser Selbstorgani￾
3 V. a. Binswanger (1990); Spuler-Stegemann (2001); Feindt-Riggers / Stein

bach (1997).
Rezensionen / Book Reviews 219
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sation von Muslimen in der BRD nimmt indessen Bodenstein (2010)
unter Rückgriff auf die neoinstitutionelle “Institutional Channelling
Theory” vor und argumentiert, dass ihre Struktur- und Handlungsfor￾
men größtenteils als Reaktion auf die staatsrechtliche institutionelle
Logik zu sehen seien. Diese Betrachtungsweise ist im Übrigen maß￾
geblich von Matthias Koenig geprägt worden, der nicht nur am Bei￾
spiel der BRD analysiert, wie sich die institutionelle Logik der Religi￾
onspolitik europäischer Staaten jeweils auf die dortige Organisierung
und Repräsentanz des Islams auswirkt (vgl. Koenig 2003, 2005).
Eine ähnliche Richtung hat zuvor der Sozialforscher Tezcan in
Anknüpfung an den Begriff der Gouvernmentalität (Foucault) ein￾
geschlagen, indem er am Gegenstand muslimischer Gemeinschaften
veranschaulicht, wie politische Rationalität “Religion” derart bear￾
beitet, dass sie als Mittel der Ordnungspolitik fungiert (vgl. Tezcan
2007), was wiederum die Entwicklungsweisen muslimischer Organi￾
sationen beeinflusst.
Im Zuge institutionalisierter Dialogforen seitens des Staates mit
muslimischen Verbänden und Einzelakteuren auf regionaler und bun￾
desweiter Ebene hat sich in den vergangenen Jahren die Aufmerk￾
samkeit politikwissenschaftlicher Forschung auf das gewachsene,
wechselseitige Verhältnis zwischen muslimischen Verbänden und
politischen Entscheidungsträgern verschoben (siehe z. B. Kreienbrink
2010; Chbib 2010; Meyer / Schubert 2011).
Hierzu hat Kerstin Rosenow-Williams mit ihren Analysen im Vor￾
feld der Veröffentlichung ihrer Dissertation erste Einsichten geliefert.
Darin setzt sie sich mit divergierenden Standpunkten muslimischer
Verbandsvertreter hinsichtlich ihres Verhältnisses zur politischen
Ebene (vgl. Rosenow 2010; Rosenow / Kortmann 2011)4 sowie mit
den bestehenden Dialog- oder Kooperationsformen unter muslimi￾
schen Organisationen (vgl. Rosenow / Kortmann 2010) auseinander.
4 Hierzu haben sich auch Busch / Goltz (2011) oder Azzaoui (2011) geäußert,
teilweise kritisch zur Islamkonferenz.
220 Rezensionen / Book Reviews
Urheberrechtlich geschütztes Material
Ihre hinter ihren Aufsätzen liegende Analyse entfaltet sie sodann
ausführlich in ihrer beim Brill Verlag 2012 erschienenen englisch￾
sprachigen Dissertation. In ihrer Forschung zielt sie darauf ab, organi￾
sationale Handlungsweisen muslimischer Dachverbände in Deutsch￾
land im Kontext von Veränderungen ihres institutionellen Umfelds zu
verstehen und interne Wandlungsprozesse deutlich zu machen. Dabei
geht sie vom Leitgedanken aus, dass nicht nur das organisationsin￾
terne Umfeld ständig in Bewegung ist, sondern dass die Organisa￾
tionen es zudem mit einer sich wandelnden politischen Umgebung
zu tun haben, auf die sie dann entsprechend reagieren. Die von ihr
über eine Dokumentanalyse extrahierten Schlüsselthemen politischer
Erwartungen nach der Jahrtausendwende charakterisieren die politi￾
sche Debatte rund um die Integration des Islams in der BRD zu Beginn
des 21. Jahrhunderts: Sie konfrontieren Vertreter des Verbandsislams
mit Forderungen nach Rechtstreue, nach Verurteilung des “Islamis￾
mus”, der Ablehnung von “Parallelgesellschaften”, nach Förderung
von Integration, der Annahme “deutscher Werte” und nach besserer
Organisierung und Kooperation.
Wie die muslimischen Organisationen darauf reagieren und wel￾
che Entscheidungen sie bezüglich dieser “externen Erwartungen”
treffen, bildet die zentrale Frage ihrer weiteren Analyse im Rahmen
ihrer empirischen Studie.
Dazu wählt sie exemplarisch drei islamische Dachverbände aus,
die sich hinsichtlich ihrer Ressourcenausstattung, der Organisations￾
geschichte, Größe und transnationalen Anbindungen unterscheiden.
Auf Grundlage der einschlägigen Sekundärliteratur sowie der Aus￾
wertung selbst erhobener Daten werden sie ausführlich beschrieben
und einer aufwändigen Analyse unterzogen.
Sie stellt heraus, dass die von ihr untersuchten Organisationen
allesamt das Interesse haben, staatlich anerkannt zu werden und dar￾
über Legitimität, Status und bessere Ressourcenausstattung zu erlan￾
gen. Dies befördere ihre Orientierung an politischen Erwartungen.
Allerdings nehme ihre Bereitschaft zur Kooperation dann ab, wenn
Rezensionen / Book Reviews 221
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externe Ressourcen unerreichbar erschienen oder sofern interne Inte￾
ressen damit in Konflikt stünden.
Um das muslimische Verbandshandeln zu explizieren, kombiniert
sie in einem der Analyse vorgelagerten Teil organisationstheoretische
Ansätze, mit denen sie das islamische Verbandshandeln mit Hilfe
von Konzeptionen des Neoinstitutionalismus, der Kontingenztheo￾
rien und der intermediären Organisationen einer Analyse unterzieht.
Die Begründung der Triangulation dieser Ansätze erscheint einleuch￾
tend; denn um Einflüsse und Erwartungen aus der institutionellen
Umwelt auf die Verbände untersuchen zu können, sind neoinstitutio￾
nelle Erklärungsansätze hilfreich, während Kontingenztheorien nötig
erscheinen, um kontextuelle Faktoren der jeweiligen Organisation,
wie Genese, Größe etc. einzubeziehen. Die Effekte interner Erwar￾
tungen ihrer Mitglieder werden indessen auf Grundlage von Theorien
zu intermediären Organisationen diskutiert. Mittels dieser Ansätze
diskutiert Rosenow-Williams sodann drei grundsätzliche Möglichkei￾
ten organisatorischen Handelns, das der “Entkoppelung”, der “Anpas￾
sung” und des “Protests”. Die darauf beruhende Untersuchung ihrer
Kontrastfälle führt sie zu folgendem, hier konzis gefassten Ergebnis:
Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB)
vollzieht nach Rosenow-Williams einen Balanceakt, der besonders
auf ihre transnationale Anlage und Organisationsstruktur zurückzu￾
führen ist. Obwohl ihre grenzüberschreitenden Verbindungen oftmals
von deutschen Amtsträgern in Frage gestellt würden, weise die DITIB
die engste Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen auf und zeige
große Bemühungen hinsichtlich der Anpassung an externe politische
Erwartungen, was intern kaum auf Widerstand stoße.
Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) nimmt unter￾
dessen eine Neupositionierung vor, unter der sich eine Zweiteilung
vollziehe. Ihre Strukturen und Aktivitäten erstreckten sich auf 11
Länder, so dass sie von Rosenow-Williams als eine europäische Orga￾
nisation bezeichnet wird, die global angelegt ist und zum Zeitpunkt
ihrer Analyse an verschiedenen Punkten die Haltung des “Protests”
zu Tage legt.
222 Rezensionen / Book Reviews
Urheberrechtlich geschütztes Material
Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) erweist sich
schließlich als eine multinationale Interessenorganisation, die sich
um Anerkennung bemüht und die Interessen verschiedener muslimi￾
scher Gemeinschaften zu vertreten versucht. Zwar sei der ZMD gene￾
rell bestrebt, sich an externe Erwartungen anzupassen, lege jedoch
dabei auch die Haltung der “Entkopplung” und des “Protests” an den
Tag.
Der besondere Verdienst dieser von der Körber Stiftung ausge￾
zeichneten Studie liegt darin, dass sie nicht nur die Entwicklungs￾
dynamik muslimischer Gemeinschaften herausstellt und eine aktua￾
lisierte Darstellung zu den größten Dachverbänden bietet, sondern
darüber hinaus Wandlungsprozesse von politischer Seite mit ihren
Folgen für deren organisatorische und strategische Entwicklung illus￾
triert. Sie führt vor Augen, wie problematisch es ist, islamische Orga￾
nisationen als statischen Block zu betrachten und zeigt die Varianz
und die Dynamiken inhaltlicher Entscheidungen und struktureller
Entwicklung bei ihnen auf.
Obschon eine Deutung des Verbandshandelns von Muslimen in
Deutschland auf Grundlage organisationstheoretischer Ansätze neue,
weiterführende Erkenntnisse hervor gebracht hat, so fragt sich den￾
noch, warum sich die Arbeit an keiner Stelle der religiösen Natur
ihres Gegenstandes zuwendet? Hier hätte Rosenow-Williams zumin￾
dest die Frage hinsichtlich der Anwendung der ausgewählten theore￾
tischen Ansätze auf Verbände, die genuin religiösen Zwecken dienen,
im Vorfeld ihrer Analyse reflektieren können.
Raida Chbib (Frankfurt)
Literatur:
Azzaoui, Mounir: “Muslimische Gemeinschaften in Deutschland zwi￾
schen Religionspolitik und Religionsverfassungsrecht – Schiefla￾
gen und Perspektiven”. In: Politik und Islam. Hrsg. von Hendrik
Rezensionen / Book Reviews 223
Urheberrechtlich geschütztes Material
Meyer / Klaus Schubert. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissen￾
schaften, 2011.
Binswanger, Karl: “Islamischer Fundamentalismus in der Bundesre￾
publik:  Entwicklung – Bestandsaufnahme – Rückblick”. In: Im
Namen Allahs:  slamische Gruppen und der Fundamentalismus in
der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Bahman Nirumand.
Köln: Dreisam-Verlag, 1990.
Bodenstein, Mark C.: “Institutionalisierung des Islam zur Integration
von Muslimen”. In: Die Rolle der Religion im Integrationsprozess: Die
deutsche Islamdebatte. Hrsg. von Bülent Ucar. Frankfurt am Main
et al.: Lang, 2010.
Busch, Reinhard / Goltz, Gabriel: “Die Deutsche Islam Konferenz –
Ein Übergangsformat für die Kommunikation zwischen Staat und
Muslimen in Deutschland”. In: Politik und Islam. Hrsg. von Hend￾
rik Meyer / Klaus Schubert. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwis￾
senschaften, 2011.
Chbib, Raida: “Die deutsche Islampolitik und die Frage nach der
Repräsentativität muslimischer Verbände”. In: Muslimische
Gemeinschaften zwischen Recht und Politik. Hrsg. von der Heinrich￾
Böll Stiftung. Berlin: o. V., 2010.
Feindt-Riggers, Nils / Steinbach, Udo: “Islamische Organisationen
in Deutschland:  Eine aktuelle Bestandsaufnahme und Analyse”.
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Urheberrechtlich geschütztes Material
Richard Heinzmann in Zusammenarbeit mit Peter Antes, Martin Thurner,
Mualla Selçuk und Halis Albayrak (Hg. im Auftrag der Eugen-Biser-Stif￾
tung): Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam, 2 Bde,
2. Aufl., Freiburg: Herder, 2014, 854 Seiten. ISBN 978-3-451-30684-6,
Euro 38,00.
Das Lexikon des Dialogs ist das Ergebnis eines seit 2005 laufenden
Dialogprozesses zwischen der Eugen-Biser-Stiftung und der Theo￾
logischen Fakultät der Universität Ankara und als wissenschaftlich
fundiertes Referenzwerk für ein breites, am christlich-muslimischen
Dialog interessiertes Publikum gedacht. Das Lexikon will damit einen
“Beitrag zur konkreten gesellschaftlichen Situation in Deutschland”
(S. 15) leisten, wo die Mehrheit der Muslime türkischen Hintergrunds
ist. Es will die Eigen- und Fremdwahrnehmung schulen, aber auch
eine Sprache für den islamischen Religionsunterricht in Deutschland
schaffen (S. 17). Maßgebliches Ziel ist die Förderung eines guten
Zusammenlebens vor Ort. Die Veröffentlichung erfolgt in deutscher
und türkischer Sprache. Weitere Übersetzungen, u. a. ins Englische,
sind angedacht.
Mehr als 600 Grundbegriffe aus Christentum und Islam werden
prägnant von Theologinnen und Theologen der jeweiligen Religion
erläutert, wobei die christlichen und islamischen Artikel unkommen￾
tiert aneinander gereiht werden. Für einige Begriffe fehlen Entspre￾
chungen in der christlichen beziehungsweise islamischen Theologie
(sehr augenscheinliche Beispiele: “Bischof” oder “Gebetsruf”), bezie￾
hungsweise wird das jeweilige Konzept in der christlichen und islami￾
schen Theologie durch unterschiedliche Begriffe ausgedrückt oder es
gibt zwischen dem christlichen und islamischen Begriff nur teilweise
Überschneidungen. Diese Brüche und Differenzen bestehen zu lassen,
ja sogar deutlich zu machen, ist eine Stärke des Lexikons und bietet
Anregung sowohl zum christlich-muslimischen Gespräch in der Pra￾
xis wie zur intensiveren wissenschaftlichen Auseinandersetzung. An
Rezensionen / Book Reviews 227
Urheberrechtlich geschütztes Material
dieser Stelle sei auf einige aufschlussreiche und zur Diskussion anre￾
gende Lemmata hingewiesen.
“Moral” wird als christliches Korrelat von “Anstand” aufgeführt.
“Ethik/türk. etik” wird christlich als “Reflexionstheorie der Moral”
verstanden, der islamische Eintrag “Ethik/türk. akhlaq” deutet dies
als lediglich eine Dimension von Ethik neben “allgemeiner Lebens￾
form” und “Summe von Verhaltensregeln”. Begründet der christliche
Eintrag “Ethik” zuletzt in der bedingungslosen Liebe zu jedem Men￾
schen, so betont der islamische Eintrag das Vorbild Muhammads und
die wesenhaft im Menschen angelegte Fähigkeit zu ethischem Han￾
deln. Die Auseinandersetzung mit diesen Einträgen offenbart einige
grundlegende Schwierigkeiten christlich-muslimischer Begegnung.
Ein deutscher Begriff dient als Übersetzung zweier unterschiedlicher
türkischer Termini. Dahinter verbergen sich unterschiedliche Begrün￾
dungsmuster ethischen Handelns, theologische Schwerpunkte und
Konsequenzen für das konkrete Leben.
Das Lemma “Säkularismus” zeigt, wie unterschiedlich im christ￾
lichen und islamischen Kontext Termini verwendet werden und zu
höchst divergierenden theologischen Interpretationen führen. Deutet
der christliche Eintrag Säkularismus als politische Strömung, die aus
der Säkularisierung – der Trennung von Gott und Welt – hervorgeht
und die Trennung von Staat und Religion bedingt, so trennt der isla￾
mische Eintrag streng zwischen Säkularismus als Weltanschauung,
die jegliche Transzendenz leugnet und zu völliger Diesseitsorientie￾
rung führt, und Säkularität als Trennung von Staat und Religion. Ver￾
weist der christliche Beitrag am Ende auf “Aufklärung: Laizismus”
und “Religionsfreiheit” als verwandte Beiträge, so schlägt der islami￾
sche Beitrag “Agnostizismus”, “Gottesleugnung”, “Jenseits”, “Staat”
und “Theokratie” vor. Die beiden Lemmata mit ihren Differenzen
sind auch Ausdruck eines der zentralen Streitpunkte gegenwärtiger
christlich-muslimischer Diskussionen um den angemessenen Platz
von Religion im öffentlichen Raum, die oft von tiefer liegenden, ver￾
borgenen terminologischen und ideologischen Differenzen geprägt
sind.
228 Rezensionen / Book Reviews
Urheberrechtlich geschütztes Material
Anregungen zu intensiverer Diskussion können auch die Lem￾
mata “Blasphemie” geben. So betont der islamische Eintrag, dass
“Erniedrigung” im Rahmen künstlerischer Betätigung ohne Absicht
zu beleidigen nicht als Blasphemie zu beurteilen ist, der christliche
Eintrag kann darin auch berechtigte Religionskritik sehen. Während
das christliche Lemma die (Feindes-)Liebe als angemessene Reaktion
nahe legt, verweist das muslimische Lemma auf die Menschenrechte
als Rahmen, innerhalb dessen Reaktionen möglich sind. Wie weit hier
Wunsch und Realität auseinanderklaffen, erweisen die Ereignisse der
letzten Jahre. Ähnlich verhält es sich mit den Lemmata “Konversion”
und deren strafrechtlichen beziehungsweise sozialen Konsequenzen.
Der endgültigen Version der Lemmata gehen intensive Diskus￾
sionen auf zahlreichen Arbeitstreffen der beteiligten deutschen und
türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler voraus, sollten
doch die Einträge für beide Seiten tragbar sein. Die Herausgeber wei￾
sen zudem darauf hin, dass sie die Übersetzung theologischer Fach￾
begriffe ins Deutsche beziehungsweise Türkische auch aufgrund des
unterschiedlichen kulturellen Kontexts vor immense Herausforderun￾
gen stellte und man sich für eine sinngemäße Übersetzung der Ter￾
mini entschieden hat (S. 18). Problematisch ist eine fehlende deut￾
sche Gesamtausgabe der Hadithe. Das Lexikon behilft sich hier mit
einem Hinweis auf die verwendeten türkischen Sammlungen. Dies ist
auch als Auftrag für die deutschsprachige Wissenschaft zu betrach￾
ten, hier Abhilfe zu schaffen.
Die Gegenüberstellung der Begriffe ermöglicht einen guten
Vergleich zwischen christlicher und islamischer Theologie, wobei
Gemeinsamkeiten wie Differenzen sichtbar werden in Begriffswahl,
Übersetzung, Argumentation, Begründungsstrukturen, Wahl der
Quellen und Darstellung. Gerade die Differenzen motivieren zu inten￾
siverer Auseinandersetzung und zur Weiterarbeit. Das Lexikon des
Dialogs erweist sich damit als sehr guter Einstieg in das christlich￾
muslimische Gespräch auf praktischer Ebene, aber auch für die Ein￾
führung in den Dialog auf Universitätsebene.
Rezensionen / Book Reviews 229
Urheberrechtlich geschütztes Material
Zugleich muss allerdings auf einige Punkte hingewiesen werden,
die in der Verwendung des Lexikons zu Stolpersteinen werden kön￾
nen. Die massive Überzahl der muslimischen Autorinnen und Autoren
stammt aus der Partnerfakultät Ankara, einer Lehrstätte mit eigener
theologischer Prägung. Die Beiträge sind darauf angelegt, eine mög￾
lichst breite Basis wiederzugeben, doch ist anzufragen, in wie weit
etwa das Lemma “Konversion isl.” eine solche besitzt beziehungs￾
weise ihm doch eine spezifische theologische Schule zugrunde liegt.
Äußerst kritisch anzumerken ist, dass unter den christlichen
Autoren keine einzige Frau ist. Unter den muslimischen Mitarbeiten￾
den sind zumindest sechs Autorinnen zu finden. Theologie ist immer
kontextuell und damit auch biographisch geprägt. Die Perspek￾
tive christlicher Frauen völlig auszublenden ist nicht hinzunehmen.
Besonders eigentümlich wird dies, wenn die beiden Lemmata “Frau”
von zwei Männern verfasst wurden. Dies ist per se noch kein Aus￾
weis mangelnder Qualität, aber ein Hinweis auf die verbreitete Praxis
“über” Frauen zu schreiben und diese damit sprachlos und unsichtbar
zu machen.
Literaturhinweise am Ende jeden Beitrags wären äußerst hilf￾
reich, insbesondere da die Beiträge als Kompromisse angelegt sind
(vgl. Vorwort). Doch dies hätte womöglich den Rahmen des Lexikons
gesprengt und ist wohl auch mit der breiten Wahl des Zielpublikums
begründet.
Die Herausgeber denken an Übersetzungen in weitere Spra￾
chen. Aber hier wäre zu berücksichtigen, dass die gebotene christli￾
che Theologie sehr deutsch geprägt ist, die islamische Theologie aus
einem türkischen Kontext spricht. Eventuell wäre es daher sinnvoll,
für dieses Unterfangen die Autorinnen- und Autorenauswahl noch￾
mals zu überdenken und die Artikel zu überarbeiten. So ist etwa der
britische Islam stärker vom indischen Subkontinent geprägt, türki￾
sche Theologie wird hier kaum rezipiert.
Die erwähnten Kritikpunkte sollen den Wert des Lexikons nicht
schmälern, sondern Anregung zur Weiterarbeit geben. Das Lexikon
des Dialogs ist eine außergewöhnliche Leistung, die in jahrelanger
230 Rezensionen / Book Reviews
Arbeit vorbereitet wurde. Es ist ein äußerst hilfreiches Instrument für
die Praxis und sei jedem und jeder ans Herz gelegt, der/die interre￾
ligiöse Begegnungen vor Ort initiiert oder auch einfach nur seine/
ihre Nachbarinnen und Nachbarn oder auch die eigene Religion bes￾
ser verstehen möchte. Die Lektüre kann und darf aber keinesfalls das
Gespräch ersetzen. Im Vorwort erklären die Herausgeber: “Gegensei￾
tiges Verstehen und gemeinsames Handeln setzen eine gemeinsame
Sprache voraus. Diese ist mehr als das Beherrschen von Wörtern und
Grammatik, sie zielt auch auf das Ausloten der Verstehenshorizonte,
die mit den Schlüsselbegriffen verbunden sind” (S. 16). Das Lexikon
für den Dialog wird diesem Anspruch sicherlich gerecht, insbeson￾
dere wenn es Anstoß liefert für weitere Diskussionen und damit Aus￾
messungen der jeweiligen Verstehenshorizonte.
Michaela Neulinger (Innsbruck)

Urheberrechtlich geschütztes Material
Naime Çakir: Islamfeindlichkeit. Anatomie eines Feindbildes in Deutschland,
Bielefeld: transcript Verlag, 2014, 272 Seiten. ISBN 978-3-8376-2661-2,
Euro 27,99.
An einem Montag im Dezember 2014, als in Dresden geschätzte
17.500 Menschen bei Schneeregen auf einer Demonstration gegen
die Islamisierung des Abendlandes zusammenkamen, landete die hier
besprochene Auseinandersetzung Naime Çakirs mit der Konstruk￾
tion von Muslimen in Deutschland als Fremde auf dem Schreibtisch
der Rezensentin. Vereinzelt fragten Journalisten verwundert, woher
plötzlich diese Menschenmassen vereint hinter Protesten gegen eine
religiöse Minderheit kamen. Wer das Buch von Çakir liest, den kann
das kaum verwundern. Die Hintergründe einer religiös verbrämten
“Fremden”feindlichkeit, die auf den Plakaten und Sprechchören der
selbst ernannten patriotischen Europäer zum Ausdruck kommt, ver￾
deutlichen uns die Relevanz der hier vorliegenden Dissertation, die
im Dezember 2012 an der Pädagogischen Hochschule Freiburg ange￾
nommen wurde.
Mit einer unermüdlichen Gründlichkeit geht die Autorin aus ver￾
schiedensten Disziplinen stammenden theoretischen und empirischen
Konzepten des Fremden nach, um schließlich eine differenzierte Defi￾
nition des islambezogenen und antiislamischen Ethnizismus vorzule￾
gen. Ausgangspunkt für die Studie der heute am Institut für Studien
der Kultur und Religion des Islam der Goethe Universität Frankfurt
am Main forschenden Soziologin Naime Çakir war die Beobachtung,
dass MuslimInnen im Zuge einer kontroversen Debatte zwar mitt￾
lerweile eine Zugehörigkeit zu Deutschland zugestanden werde, ihr
Glaube aber “lediglich ertragen, erduldet und ausgehalten” werde
(S. 206). Mit Bezug auf eine Formulierung von Simmel charakterisiert
Çakir die eingeladenen Gast-Arbeiter als “Fremde die kamen und
wider Erwarten auf Dauer blieben” (S. 206). Die Annahme der Staats￾
bürgerschaft und der Bildungsaufstieg, die strukturelle Integration
also, führten dabei paradoxerweise nicht zu einhelliger Akzeptanz
232 Rezensionen / Book Reviews
Urheberrechtlich geschütztes Material
der Nachkommen ehemaliger GastarbeiterInnen, vielmehr wurde die
Religion erst recht zum Problem stilisiert, sobald sie nicht mehr oder
nur unter Schwierigkeiten “erkenn- und typisierbar” (S. 206) waren.
Führt man Çakirs Gedanken weiter, wurde der zunächst wenig beach￾
tete Islam nicht durch die Widerspenstigkeit der Gläubigen, sondern
gerade durch die gelingende Integration zum “‘Fremden im Innern’,
das die imaginierte ‘Leitkultur-Idee’ zu bedrohen begann” (S. 206).
Çakirs Ausführungen sind vor allem dann fesselnd, wenn sie Zygmunt
Baumanns Gedanken zum Unentscheidbaren, sich durch Ambivalen￾
zen auszeichnenden “Dritten” mit Leben füllt und auf die heutigen
Kerndebatten der deutschen und anderer westeuropäischer Gesell￾
schaften anwendet. Der aus Polen stammende jüdische Soziologe und
Philosoph Baumann liefert mit seinem Verständnis des Fremden als
“Kategorie der Ambivalenz” eine hervorragende Grundlage, um die
hier angesprochene Paradoxie zu verstehen. Die Einstellungen gegen￾
über dem “Fremden” können zunächst einmal zwischen Faszination
und Bedrohungswahrnehmung, zwischen Bewunderung und Verach￾
tung wechseln. Noch irritierender ist an ihnen allerdings, dass sie die
Freund-Feind-Dichotomie durcheinanderbringen.
Moderne Nationalstaaten sind vor die Aufgabe gestellt, gleichzei￾
tig zu exkludieren – indem sie die Zugehörigkeit, z. B. durch Staats￾
bürgerschaft, definieren und Identität, z. B. durch Debatten und Nar￾
rative der nationalen Einheit, schaffen – und nicht im Widerspruch zu
demokratischen und global eingeforderten humanitären Menschen￾
rechtsansprüchen von Individuen oder Gemeinschaften zu stehen (S.
208). Gerade das von Baumann beschriebene Bedürfnis nach Eindeu￾
tigkeit und Zuordenbarkeit – das sich beispielsweise in Begrifflichkei￾
ten wie dem Migrationshintergrund widerspiegelt – wird zum Kern￾
problem. Der oder die muslimische Deutsche scheint bis heute eine
Unmöglichkeit, die aus dem Hinterhof ins Stadtbild rückende provi￾
sorische Moschee der ehemaligen “Gastarbeiter” wird eben von einer
nicht zu übersehenden und überhörenden Minderheit gerade nicht
als Zeichen der Normalisierung im Rahmen einer durch religiöse
Vielfalt geprägten und in ihrer Verfassung als religionsfrei charakteri-
Rezensionen / Book Reviews 233
Urheberrechtlich geschütztes Material
sierten Gesellschaft verstanden, sondern als Dominanzanspruch einer
gefährlichen Minderheit. Markant ist hierbei, wie bereits von einigen
WissenschaftlerInnen gezeigt wurde, dass die (angenommene) Religi￾
onszugehörigkeit die von Kindern und Enkeln ehemaliger Eingewan￾
derter zunehmend abgelegte Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes
in der Markierung als nicht-zugehörig ersetzt. Damit verschiebt sich
die Etikettierung des Fremden entlang der Nationalität hin zu einer
entlang der Religionszugehörigkeit (S. 210).
Ausführlich legt Çakir die verschiedenen Konzepte von Rasse,
Rassismus und die neuartigen Formen von Rassismus (Neorassismus)
dar, die ohne die Vorstellung von Rasse auskommen – indem sie sozi￾
ale und kulturelle Differenzen naturalisieren und damit als ererbt
und unveränderlich konstruieren. Der kulturelle Rassismus gehe eben
nicht mehr von der Überlegenheit bestimmter Rassen aus, sondern
postuliere lediglich die Unvereinbarkeit der Lebensweisen unter￾
schiedlicher Kulturen und Ethnien (S. 119). Verschiedene Menschen￾
gruppen seien demnach zwar gleichwertig, könnten aufgrund dieser
“natürlichen Differenzen” jedoch nicht miteinander leben (S. 120).
Religion wird dabei zum unveränderlichen Wesensmerkmal, mit
dem “eine klare Trennlinie zwischen Einheimischen und Zugewan￾
derten entlang ihrer Kultur- bzw. Religionszugehörigkeit” gezogen
wird. Auch ohne Verwendung des mittlerweile nach allgemeinem
Konsens verpönten biologistischen Rassebegriffs legten diese Formen
des Rassismus die Betonung auf die Differenz zwischen Personen und
Personengruppen (S. 122). Mischformen, wie Nachkommen gemisch￾
ter Partnerschaften, oder Kultur- beziehungsweise Religionswechsel
sind nach einer solchen Vorstellung kaum möglich und die Aner￾
kennung erkennbar Eingewanderter als Deutsche eine offenkundige
Herausforderung für den von Baumann beschriebenen Wunsch nach
Eindeutigkeit.
Schlüsselergebnis der Literaturanalyse von Naime Çakir ist die
von ihr vorgeschlagene Definition des Begriffes antiislamischer Ethni￾
zismus. Angesichts der Überfrachtung und “zunehmend missbräuch￾
lichen Verallgemeinerung des Wortes Rassismus, das mittlerweile bei
234 Rezensionen / Book Reviews
Urheberrechtlich geschütztes Material
fast allen Formen der Diskriminierung gegenüber Menschen(-grup￾
pen) angewendet” werde sowie dessen weit verbreiteter Assoziation
mit biologistischem Rassismus, zieht sie den Begriff “Ethnizismus”
vor (S. 151).
Ein auf den Islam bezogener Ethnizismus, der die Basis für jeg￾
liche Islamfeindlichkeit bildet, könne auch positive Züge annehmen,
indem vom Gedanken der Toleranz und Anerkennung getragene, aber
dabei auf Kulturen und Ethnien bezogene Differenzkonstruktionen
immer auch simplifizierende Typisierungen von heterogenen sozia￾
len Strukturen transportieren. Während Çakir unter der Begrifflich￾
keit “islambezogener Ethnizismus” bewusst sowie unbeabsichtigt
übernommene Vorurteile und Einstellungen thematisiert, geht “anti￾
islamischer Ethnizismus” viel weiter und bezeichnet das gesamte
Spektrum negativer Einstellungen von offen rassistischen Haltungen
und Handlungen, die von einer Ideologie der Ungleichwertigkeit mit
impliziten Vorurteilen und geschlossenem Feindbild gekennzeichnet
sind. Der Begriff “antiislamischer Ethnizismus” bezieht sich damit im
Sinne einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit auf das feindli￾
che Verhältnis zu einer spezifischen Gruppe von Menschen und nicht
auf interindividuelle Feindschaftsverhältnisse. Der Begriff Ethnizis￾
mus verweist darauf, dass einerseits die “islamische Kultur” – und
eben nicht Glaube oder Religionsausübung – als das zentrale unver￾
änderliche Identitätsmerkmal angesehen wird, und die Frage, ob eine
Person oder Gemeinschaft tatsächlich dieser Religion angehört oder
sie ausübt, daher zweitrangig ist (S. 154f.).
In ihren Ausführungen bemüht sich die Autorin nicht, Argumente
für die Friedfertigkeit von Muslimen oder die Absurdität des Ver￾
dachts, die auf ca. vier Millionen geschätzten MuslimInnen im Lande
seien Teil einer Islamisierung Europas, zu liefern. Dieses Buch bewegt
sich fernab von derartigen konkreten Diskussionen. Naime Çakir
strebt vielmehr ein Verständnis von Funktionen und vor allem Funk￾
tionsweisen von Debatten an, die MuslimInnen ausgrenzen. Darin
unterscheidet sich diese Publikation von anderen Veröffentlichungen
der vergangenen Jahre, die islamfeindliche Diskurse beispielsweise
Rezensionen / Book Reviews 235
Urheberrechtlich geschütztes Material
empirisch aufarbeiten, wie der ebenfalls 2014 im transcript-Verlag
erschienenen Dissertation »… weil ihre Kultur so ist« Narrative des anti￾
muslimischen Rassismus von Yasemin Shooman.
Kritisch anzumerken bleibt, dass, wenn es auch über weite Stre￾
cken von Çakirs Text so scheint, sich die muslimische Bevölkerung
Deutschlands bei weitem nicht nur aus GastarbeiterInnen und deren
Nachkommen zusammensetzt. Neben Eingewanderten, die aus ande￾
ren Gründen als Arbeit zu finden nach Deutschland kamen, z. B. um
zu studieren, zu heiraten oder auf der Flucht vor politischen oder
religiösen Konflikten, gehören auch KonvertitInnen und deren Nach￾
kommen zur Vielfalt der deutschen Muslime. Auch wenn die öffent￾
liche Debatte diese Vielfalt nicht selten negiert, wünscht sich die
Rezensentin nicht nur bei dieser Publikation eine ernsthafte Reflek￾
tion der Zusammensetzung der muslimischen Bevölkerung. In diesem
Fall ergibt sich daraus eine relevante Frage an die Argumentation,
die gleichwohl sicherlich nicht zu einer völligen Infragestellung der
Leitthese Naime Çakirs geführt hätte. So lässt sich vermutlich bei
Zugewanderten muslimischen Glaubens sehr viel leichter von “Frem￾
den” sprechen, als bei Menschen muslimischen Glaubens deutscher
Herkunft. Die Beantwortung der Frage, wieso auch sie in den von
Çakir beschriebenen Diskursen nicht (mehr) als zugehörig angesehen
werden, steht folglich noch aus.
Nachdem der Fokus in öffentlichen Debatten und der Forschung
zumindest teilweise von den problematisierten MuslimInnen hin zur
Gesamtgesellschaft gerückt ist, kann mittlerweile Çakirs Überblick
der wichtigsten Einstellungsbefragungen der deutschen Bevölkerung
längst keinen Anspruch auf Vollständigkeit mehr erheben. Neben der
von Çakir ausführlich referierten Studie Gruppenbezogene Menschen￾
feindlichkeit kamen aus dem Institut für Interdisziplinäre Konflikt￾
und Gewaltforschung der Universität Bielefeld die Studien ZuGleich:
Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit von Immigrantinnen und Fragile Mitte
– Feindselige Zustände im Erscheinungsjahr von Çakirs Monographie
hinzu. Auch die unter der Leitung von Naika Foroutan am Berliner
Institut für empirische Integrationsforschung 2014 entstandene Erhe-
236 Rezensionen / Book Reviews
bung Deutschland postmigrantisch und die Anfang 2015 vorgestellte
Sonderauswertung des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung
Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland bieten neue Daten zu Ein￾
stellungen gegenüber Muslimen. Allerdings – und dies lässt uns zu
der Feststellung der Relevanz des von Çakir besprochenen Themas
zurückkommen – untermauern die Befunde dieser kürzlich veröffent￾
lichten Umfrageergebnisse die von der Autorin festgestellte Tendenz.
Das Lager derer, die sich für die Einschränkung von Grundrechten für
MuslimInnen aussprechen, stagniert auf hohem Niveau. Die Debatte
um Zugehörigkeit oder eben Fremdheit “der” Muslime wird daher
voraussichtlich nicht so bald versiegen und gewinnt mit Hilfe weite￾
rer Anschläge in Westeuropa und anderer globaler Ereignisse womög￾
lich sogar noch an Fahrt.
Das Buch von Naime Çakir eignet sich sehr gut als Einstieg in
die Beschäftigung mit den Hintergründen und Formationen von
Feindbildern gegenüber Muslimen. Einzelne Kapitel bieten darüber
hinaus einen guten Ausgangspunkt für Diskussionen Studierender in
Lehrveranstaltungen. Die zugegebenermaßen theoriehaltige und mit
ihren ausführlichen Diskussionen soziologischer und psychologischer
Konzepte für ein breites Publikum herausfordernde Publikation hält
für die oben angesprochenen aktuellen Debatten einiges an Diskussi￾
onsstoff bereit und verdient eine breite und vor allem aufmerksame
Leserschaft. Eine solch nüchterne Analyse der Formen und Funktions￾
weisen ausgrenzender Tendenzen ist die Voraussetzung für die konst￾
ruktive Auseinandersetzung mit ihnen.
Riem Spielhaus (Erlangen-Nürnberg)

Urheberrechtlich geschütztes Material
Aysha A. Hidayatullah: Feminist Edges of the Qurʾan. Oxford / New York:
Oxford University Press, 2014, 278 Seiten. ISBN: 978-0-19-935956-1,
Euro 24,10.
Mit ihrem neuen Buch Feminist Edges of the Qur’an legt die US-ame￾
rikanische Islamwissenschaftlerin Aysha A. Hidayatullah den Finger
in die Wunde. In dem Buch tastet sich die junge Wissenschaftlerin
sorgfältig an die Texte von bedeutenden Vordenkerinnen der feminis￾
tischen Koranauslegung, namentlich Riffat Hassan, Azizah al-Hibri,
Amina Wadud, Asma Barlas, Sa‘diyya Shaikh und Kecia Ali, heran.
Mit Ausnahme von Shaikh, die in Südafrika lebt, sind alle Autorin￾
nen Professorinnen in den USA und haben Schriften zur Frage, wie
die Aussagen des Koran zum Geschlechterverhältnis verstanden wer￾
den sollen, vorgelegt. Hidayatullah führt den Leser an die Thematik
heran, indem sie die Entstehung der feministischen Koranexegese als
einen Diskurs kontextualisiert, der unter dem Einfluss von Koloni￾
alismus, muslimischen Modernisierungsbewegungen und modernen
puritanischen Bewegungen entstanden ist. All diese Bewegungen ver￾
handeln ihren Anspruch auf Wahrheit und Deutungshoheit entlang
von Debatten um den symbolischen weiblichen Körper, gegen den
sich die akademische weibliche Koranexegese als “kollektives episte￾
mologisches Projekt” (S. 44) aufstellt, um die männliche Deutungs￾
hoheit in Frage zu stellen. In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit
dieser spezifischen Lesart des Korans beweist Hidayatullah auf meh￾
reren Ebenen ein sensibles Gespür: Etwa wenn es darum geht, keine
pauschale, undifferenzierte, sondern eine sachlich-wissenschaftliche
Kritik an feministischen Exegesen zu äußern, aber auch in ihrer Sen￾
sibilität für den potentiellen Missbrauch islamisch-feministischer Dis￾
kurse durch den Staat, um einen Diskurs über “gute und böse Mus￾
lime” zu betreiben.
Feministische Lesarten des Korans wurden oft kritisiert, etwa
von Farid Esack, Nasr Hamid Abu Zayd und substantiell von Kecia
Ali und Raja Rhouni. Jedoch hatte es bisher keine Arbeit gegeben,
238 Rezensionen / Book Reviews
Urheberrechtlich geschütztes Material
die sich auf kohärente Weise der Thematik annähert. Dies hat Hida￾
yatullah mit der vorliegenden Arbeit getan. Aus diesem Grund inter￾
essieren vor allem die Punkte, an denen sie Kritik übt und alternative
Wege vorschlägt. Zunächst rekurriert Hidayatullah auf die Kritik von
Rhouni (S. 143f.) an der unklaren Verwendung der Kernkonzepte gen￾
der justice (Geschlechtergerechtigkeit) und gender equality (Geschlech￾
tergleichheit), die nicht philosophisch bestimmt, sondern als Denk￾
kategorien vorausgesetzt werden. Dies ist ein gemeinsames Problem
feministischer Denkansätze (vgl. Pimminger 2012). Geschlechterge￾
rechtigkeit wird a priori als eine durch den Koran normativ gesetzte
Kategorie gesehen, nicht jedoch aus dem Text herausgearbeitet. Der
Begriff gender stammt aus der Gender-Theorie und meint Geschlech￾
terrollen als soziales Konstrukt, in dem sich Herrschaftsstrukturen
widerspiegeln. Die muslimischen Feministinnen verwenden den
Begriff jedoch undifferenziert im Sinne von “Frau/weiblich”. Aus
einer islamisch-theologischen Perspektive stellt sich vor allem die
Frage nach einer eigenen Positionierung zum Theorem von gender als
sozialem Konstrukt. Ist die unreflektierte Übernahme eines Begriffes
aus der Gender-Theorie vereinbar mit den Aussagen des Korans zur
Ontologie der Geschlechter? Hidayatullah verweist an diesem Punkt
auf eine anachronistische Tendenz, zeitgenössische Vorstellungen
von (Geschlechter-)Gerechtigkeit in den Koran hineinzuprojizieren.
Zumindest müsse die Möglichkeit, dass (Geschlechter-)Gerechtigkeit
im Koran und (Geschlechter-)Gerechtigkeit im heutigen Kontext nicht
dasselbe bedeuten, reflektiert werden (S. 131).
Hidayatullah positioniert sich an mehreren weiteren Punkten
kritisch zur feministischen Exegese. Sie sieht sie als eine Form des
modernen Koranzentrismus, der Gefahr läuft, vorschnell absolute
Wahrheitsansprüche zu formulieren und damit die Tradition, ohne
sie studiert zu haben, abzuwerten. Der feministischen Skepsis gegen￾
über patriarchalischen Lesarten klassischer Korankommentatoren,
die feministische Exegetinnen in der Historizität dieser Lesarten
begründet sehen, stellt Hidayatullah die eigene Historizität der femi￾
nistischen Koranexegese gegenüber. Der feministischen Prämisse, der
Rezensionen / Book Reviews 239
Urheberrechtlich geschütztes Material
Koran schreibe keine Geschlechterrollen und damit keine Geschlecht￾
erhierarchien vor, stellt Hidayatullah wiederum die feministische Aus￾
legung des Verses 4:34 gegenüber, in der das Konzept der qiwāma des
Mannes als soziale und finanzielle Fürsorgepflicht verstanden wird
(als Ausgleich dafür, dass die Frau Kinder austrägt). Damit gelingt es
Hidayatullah, einen der vielen Widersprüche in der feministischen
Exegese aufzuzeigen. Bei den Methoden und der Exegese selbst fal￾
len ihr immer wieder relativistische Momente auf, jedoch entgeht
ihr, dass auch die intratextuelle Lektüremethode der Feministinnen
(anknüpfend an die klassische Methode tafsīr al-Qurʾān bi-l-Qurʾān)
beliebige Auslegungen ermöglicht und dass auch für diese Methode
keine klaren Kriterien aufgezeigt werden. Sie zeigt aber deutlich auf,
wie die Exegetinnen zwischen Bedeutung und Interpretation des
Korans unterscheiden, um mögliche frauenfeindliche Bedeutungen
ausschließlich in der Tafsīr-Tradition zu verorten und den Koran von
jeglichem patriarchalischem Inhalt freizusprechen (was in klarem
Widerspruch zur angenommenen Historizität des Korantextes steht).
Dem Argument, der Koran weise keine patriarchalischen Züge auf,
hält sie Verse entgegen, die eine patriarchalische soziale Hierarchie
implizieren und die männliche Sexualität klar bevorzugen (2:187,
2:222f., 2:228, 4:3, 4:24, 4:34, 23:6, 70:30). Sie resümiert ihre
Gedanken, indem sie erklärt, ein hierarchisches Geschlechterverhält￾
nis müsse einen liebevollen Umgang, der auf gegenseitigem Respekt
beruhe, nicht ausschließen (S. 165). Ebenso trete ein hierarchisches
Geschlechterverhältnis nicht in Konkurrenz zur Autorität Gottes über
alle Menschen. Dies bedeute, die Autorität des Mannes (qiwāma) sei
nicht als eine gottähnliche zu werten (S. 167f.).
Problematisch bleibt Hidayatullahs Einordnung der feminis￾
tischen Exegese in die Tafsīr-Tradition: Diese Einordnung ist nicht
schlüssig, weil die feministische Exegese weder hermeneutische
Grundüberlegungen noch Methoden des klassischen Tafsīr über￾
nimmt, noch klassische Werke rezipiert. Zu den Methoden der femi￾
nistischen Exegese meint Hidayatullah, die historische Kontextuali￾
sierung bleibe oftmals arbiträr. Verse, die als “problematisch” gelten,
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würden in ihrem Kontext betrachtet und Verse, die ein positives Bild
vom Geschlechterverhältnis geben, würden ahistorisch und über￾
zeitlich gelesen. Das Problem liegt aber tiefer als es Hidayatullah
sieht: Denn die “historische Kontextualisierung” steht zwar auf der
Programmatik der feministischen Exegese, wird jedoch nicht ange￾
wandt, da sämtliche Hadithe und Überlieferungen kategorisch als
problematisch eingestuft und nicht beachtet werden. Somit fällt das
Werkzeug der historischen Kontextualisierung gänzlich weg – und
mit der bewussten Ignorierung von Überlieferungen zu Offenbarungs￾
anlass und zum Verständnis der Prophetengefährten auch der Bezug
zu Methoden der exegetischen Tradition. Noch viel stärker ins Auge
springt das Missverständnis um die Kategorien asbāb an-nuzūl und
ʿāmm-ḫāṣṣ, die dazu dienen sollen “universell-gültige”, gemeint sind
überzeitlich gültige, von “spezifischen”, zeitlich begrenzt gültigen
Versen zu unterscheiden (“universals”/“particulars”). ʿĀmm und ḫāṣṣ
werden als Kategorien verstanden, die den gesamten Versen “univer￾
selle” und “spezifische” Bedeutungen zuschreiben. In der klassischen
Koranhermeneutik jedoch beziehen sich ʿāmm und ḫāṣṣ auf einzelne
Wortlaute und darauf, auf wen oder was sich der ḥukm bezieht, und
nicht auf die Bedeutung ganzer Verse. Vor allem die Kategorie ḫāṣṣ
hat in der klassischen Hermeneutik nichts mit dem historischen Kon￾
text zu tun. Ist eine Aussage als ḫāṣṣ eingestuft, bedeutet dies, dass
sie definitiv in dieser speziellen Bedeutung ist. Wenn es im Text etwa
heißt, man solle als Sühne drei Tage fasten, wird von diesem Satz
abgeleitet, dass man definitiv drei und nicht zwei oder vier Tage fas￾
ten soll. Dass ein Wortlaut ḫāṣṣ ist, ändert folglich nichts an der über￾
zeitlichen Gültigkeit der damit verbundenen Aussage, nach dem klas￾
sischen Prinzip des uṣūl al-fiqh: al-ʿibratu bi-ʿumūmi l-lafẓi lā bi-ḫuṣūṣi
s-sababi (die Gültigkeit des allgemeinen Wortlautes, nicht des spezi￾
fischen Anlasses). Wadud geht noch weiter, und will aus Versen, die
ḫāṣṣ sind – also ihrer Ansicht nach auf einen spezifischen Kontext ver￾
weisen – universelle Prinzipien ableiten. Dabei glaubt sie, die Katego￾
rie ḫāṣṣ eigne sich dazu, die Situationsgebundenheit eines Verses zu
erfassen. Die Kategorie ḫāṣṣ erfährt hier also eine Neudeutung, indem
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davon ausgegangen wird, ḫāṣṣ-Verse (oder Wortlaute) eigneten sich
für eine historische Kontextualisierung. Ein weiteres Missverständnis
betrifft die Berichte von den asbāb an-nuzūl: Die feministische Exegese
glaubt, dass die Berichte zu den Offenbarungsanlässen Information
über den Einfluss der historischen sozio-kulturellen Realität auf den
Wortlaut des Koran geben; die betreffenden Verse und damit verbun￾
denen Aussagen wiederum verstehen sie als situationsspezifisch. Aus
diesen spezifischen Herabsendungen (“particulars”) will Wadud wie￾
derum übergeordnete Prinzipien wie Gerechtigkeit ableiten, scheitert
aber daran, dass sie das dazu notwendige Überlieferungsmaterial
schlicht ignoriert. Die Berichte über die asbāb an-nuzūl dienten viel￾
mehr dazu, unklare Stellen des Textes in einen narrativen Kontext zu
setzen und dann auszulegen. Auch hier wird folglich eine Kategorie
der klassischen ʿulūm al-Qurʾān missverstanden und die Anwendung
derselben bleibt am Ende reine Theorie. Das Missverständnis basiert
auf der Annahme, dass Kategorien wie asbāb an-nuzūl oder ʿāmm-ḫāṣṣ
zu einer kontextuellen Lektüre dienen können. Bei den asbāb an-nuzūl
müsste zunächst überprüft werden, ob und wie das Überlieferungsma￾
terial überhaupt für eine Kontextualisierung verwendet werden kann.
Es stellt sich schließlich die Frage, warum ausgerechnet diese beiden
Methoden des klassischen Tafsīr angesprochen werden und weitere
Kategorien der klassischen Methodenlehre vollkommen außen vor
bleiben. Folglich muss die Kritik Hidayatullahs radikaler formuliert
werden als sie es in ihrem Buch tut: Die feministische Koranexegese
wird ihren eigenen hermeneutischen und methodischen Ansprüchen
nicht gerecht. Für sensible Punkte wie den Androzentrismus der kora￾
nischen Anrede, auf den Kecia Ali verwiesen hat, hält auch Hida￾
yatullah weder eine exegetische noch eine hermeneutische Lösung
bereit.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Aysha Hidayatullah zeigt mit
ihrer wertvollen Arbeit die zahlreichen Widersprüche in der feminis￾
tischen Koranexegese auf, bewegt sich bei ihren Überlegungen aber
aus dem hermeneutischen Rahmen der feministischen Denkerinnen
nicht hinaus. Die Prämissen der feministischen Koranhermeneutik,
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die einer eklektischen und widersprüchlichen Argumentationsweise
Tür und Tor öffnen, werden nicht konsequent genug in Frage gestellt.
Das Buch ist daher eher als eine kritische Auseinandersetzung zu
betrachten, und weniger als Darstellung eines neuen Ansatzes.
Nimet Seker (Frankfurt)
Literatur:
Pimminger, Irene: Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit? Norma￾
tive Klärung und soziologische Konkretisierung, Opladen / Berlin /
Toronto: Barabara Budrich, 2012.

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FRANKFURTER SCHRIFTEN ZUM ISLAM
Islam im Diskurs
herausgegeben von Ömer Özsoy
Ayşe Başol, Ömer Özsoy (Hg.)
Band 1: Geschichtsschreibung zum Frühislam
Quellenkritik und Rekonstruktion der Anfänge
412 Seiten, Hardcover, 2014, ISBN 978-3-86893-132-7
Muhammet Sait Duran
Band 2: Zur Theorie einer teleologischen Methode in der
islamischen Normenlehre
Aš-Šāṭibīs (gest. 790/1388) Konzept der Absichten der Scharia
(maqāṣid aš-šarīʿa)
406 Seiten, Hardcover, 2015, ISBN 978-3-86893-177-8
Serdar Kurnaz
Band 3: Methoden zur Normderivation im islamischen Recht
Eine Rekonstruktion der Methoden zur Interpretation autoritativer
textueller Quellen bei ausgewählten islamischen Rechtsschulen
ca. 400 Seiten, Hardcover, 2015, ISBN 978-3-86893-199-0
Reihen:
Islam im Diskurs
herausgegeben von Ömer Özsoy
Islam im Diskurs – Studienreihe
herausgegeben von Jameleddine Ben Abdeljelil
Islam im Kontext
herausgegeben von Bekim Agai
Islam im Kontext – Studienreihe
Frankfurter Zeitschrift für Islamisch-Theologische Studien
herausgegeben von Ömer Özsoy
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Islam im Diskurs – Studienreihe
herausgegeben von Jameleddine Ben Abdeljelil
Jameleddine Ben Abdeljelil, Serdar Kurnaz
Band 1: Maqāṣid aš-Šarī ʿa. Die Maximen des islamischen Rechts
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1 | 2014: Kontexte, Methoden, Inhalte
149 Seiten, kartoniert, 2014, ISBN 978-3-86893-168-6
Frankfurter Zeitschrift für
Islamisch-Theologische Studien
herausgegeben von Ömer Özsoy
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FÜR ISLAMISCH-THEOLOGISCHE STUDIEN
2 | 2015

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